Das Buch meiner Leben
Narkose versetzen zu müssen. Sie durfte nichts essen, weil im Anschluss eventuell ein Kernspin gemacht werden musste, und so brüllte sie die ganze Zeit vor Hunger. Eine Ärztin gab ihr ein buntes Windrad, das wir immer wieder in Drehung versetzten, um sie abzulenken. Während des Scans warteten wir unruhig und ängstlich.
Dr. Tomita, der Chef der Kinderneurochirurgie, zeigte uns die Aufnahmen. Isabels Gehirnkammern waren vergrößert, voller Flüssigkeit. Die Dränagekanäle seien verstopft, sagte Dr. Tomita, möglicherweise durch eine » Wucherung « . Es müsse dringend eine Magnetresonanztomographie gemacht werden.
Teri hielt Isabel in den Armen, während sie in künstlichen Schlaf versetzt wurde, und dann übergaben wir sie den Schwestern zur MRT , die eine Stunde dauerte. Die Cafeteria im Kellergeschoss war der allertraurigste Ort der Welt mit ihrem tristen Neonlicht und den grauen Resopaltischen und den diffusen Ahnungen derjenigen, die sich für einen Moment von ihren kranken Kindern getrennt hatten, um ein getoastetes Käsesandwich zu essen. Wir wagten es nicht, über das Ergebnis der MRT zu spekulieren, waren ganz in diesem Moment, der, so schrecklich er war, noch nicht in die Zukunft wies.
Dann wurden wir in die Radiologie gerufen. Auf dem hell erleuchteten Flur kam uns Dr. Tomita entgegen. » Wir vermuten « , sagte er, » dass Isabel einen Tumor hat. « Er zeigte uns die Aufnahmen auf seinem Computer. Mitten in Isabels Hirn, zwischen Kleinhirn und Hypothalamus, war ein rundes Etwas, groß wie ein Golfball, wie Dr. Tomita sagte, aber für Golf hatte ich mich noch nie interessiert, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, was das bedeutete. Dr. Tomita würde den Tumor entfernen, doch erst die pathologische Untersuchung würde ergeben, um welche Art Tumor es sich handelte. » Es sieht wie ein teratoider aus « , sagte Dr. Tomita. Auch das Wort teratoid sagte mir nichts. Es lag außerhalb meiner Erfahrungen, gehörte in den Bereich des Unvorstellbaren und Unbegreiflichen, in den Dr. Tomita uns nun führte.
Isabel schlief im Aufwachraum, reglos, unschuldig. Teri und ich küssten ihre Hände und Stirn und weinten in diesem Moment, der unser Leben in ein Vorher und ein Nachher teilte. Das Vorher lag nun unwiderruflich hinter uns, während sich das Nachher wie ein explodierender Stern in einem unendlich dunklen Schmerzensuniversum ausbreitete.
In meiner Ratlosigkeit, was dieses Wort bedeuten mochte, das Dr. Tomita verwendet hatte, gab ich im Internet das Stichwort » Hirntumor « ein. Dort war ein Tumor abgebildet, der so ähnlich aussah wie der von Isabel. Die vollständige Bezeichnung lautete » atypischer teratoider/rhabdoider Tumor « ( ATRT ). Dieser Tumor war äußerst bösartig und sehr selten, trat bei drei Kindern von einer Million auf und machte etwa drei Prozent der frühkindlichen Tumorvarianten des zentralen Nervensystems aus. Die Überlebensrate bei Kindern unter drei Jahren betrug weniger als zehn Prozent. Es gab noch deprimierendere Statistiken, doch ich wandte mich vom Bildschirm ab und beschloss, nur mit Isabels Ärzten zu sprechen und ihnen zu vertrauen. Nie wieder würde ich im Internet recherchieren. Ich ahnte, dass wir klug mit unserem Wissen und unserer Fantasie umgehen mussten, wenn wir nicht den Verstand verlieren wollten.
Am Samstag, dem 17. Juli, setzten Dr. Tomita und sein Team ein Ommaya-Reservoir in Isabels Kopf ein, um die angestaute Hirnflüssigkeit abzuleiten und den Druck zu verringern. Als Isabel in ihr Bettchen auf der neurochirurgischen Station gelegt wurde, strampelte sie sich von ihrer Decke frei, wie es ihre Gewohnheit war. Wir nahmen das als gutes Zeichen, als einen ermutigenden ersten Schritt auf einem langen Weg. Am Montag wurde sie entlassen, um zu Hause auf die Tumoroperation zu warten, die für Ende der Woche angesetzt war.
Teris Eltern waren nach Chicago gekommen, weil ihre Schwester am Tag von Isabels Check-up ihren zweiten Sohn geboren hatte (wir hatten dem Ereignis kaum Aufmerksamkeit geschenkt, da wir nur an Isabel denken konnten). Ella hatte das Wochenende bei den Großeltern verbracht und wenig bemerkt von der Unruhe oder unserer Abwesenheit. Dienstagnachmittag schien die Sonne, wir machten alle einen Spaziergang, Isabel in einem Tragetuch an Teris Brust. Am Abend fuhren wir eiligst in die Klinik, weil sie Fieber bekommen hatte. Möglicherweise war es eine Infektion, was nicht selten ist, wenn einem Kind ein Fremdkörper in den Kopf eingesetzt wird
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