Das Buch meiner Leben
gedankenlos ihrer Ertüchtigung entgegen, Leute schwelgten in der Banalität des Gewohnten, das Pferd des Folterknechts rieb sich die unschuldige Hinterbacke an einem Baum.
Durch Isabels Krankheit wurde alles in unserem Leben wichtig und real. Die äußere Welt war nicht so sehr irreal, sondern irrelevant, sie hatte keine erkennbare Bedeutung für uns. Wenn Menschen, die nichts von Isabels Krankheit wussten, sich erkundigten, was es Neues gebe, und ich ihnen antwortete, zogen sie sich rasch hinter den fernen Horizont ihres eigenen Lebens zurück, wo ganz andere Dinge wichtig waren. Als ich meinem Steuerberater von Isabel berichtete, sagte er: » Aber Sie sehen gut aus, das ist die Hauptsache! « Die ruhig dahinsegelnde Welt brauchte Plattitüden und Klischees, die keinen logischen oder abstrakten Bezug zu unserer Katastrophe hatten.
Es fiel mir schwer, mit wohlmeinenden Menschen zu sprechen, und noch schwerer, ihnen zuzuhören. Sie waren liebenswürdig und freundlich, und Teri und ich ertrugen ihre Mitleidsbekundungen, ohne sie ihnen zum Vorwurf zu machen, weil sie einfach nicht wussten, was sie sonst hätten sagen sollen. Sie schützten sich vor dem, was wir durchmachten, indem sie sich auf den handhabbaren Bereich leerer, abgedroschener Worte beschränkten. Uns ging es besser, wenn der Betreffende klug genug war, uns nicht mit Worten trösten zu wollen, und das wussten unsere besten Freunde. Wir sprachen lieber mit Dr. Lulla oder Dr. Fangusaro, die uns helfen konnten, die wirklich wichtigen Dinge zu begreifen, statt hören zu müssen, wir sollten » den Mut nicht verlieren « (worauf ich jedes Mal erwiderte, dass ich nichts anderes zu verlieren hätte). Und wir gingen all jenen aus dem Weg, von denen wir vermuteten, sie würden uns mit der allergrößten Plattitüde trösten wollen – Gott. Der Krankenhauspfarrer hatte strikte Anweisung, nicht in unsere Nähe zu kommen.
Eine der beliebtesten Plattitüden waren die » fehlenden Worte « . Aber Teri und mir fehlten keineswegs die Worte. Wir konnten sehr wohl unsere Empfindungen beschreiben. Wir hatten viele Worte, mit denen wir über den ganzen Horror sprechen konnten. Auch Dr. Fangusaro und Dr. Lulla hatten Worte, immer schmerzhaft präzise Worte. Wenn es ein Kommunikationsproblem gab, dann deswegen, weil es zu viele Worte gab, viel zu gewichtige und viel zu spezifische, als dass wir sie anderen zumuten konnten. (Beispielsweise Isabels Chemo-Medikamente: Vincristine, Methotrexate, Etoposide, Cyclophospamide und Cisplatin – Geschöpfe einer besonders bösartigen Dämonologie.) Wir schützten unsere Freunde instinktiv vor dem Wissen, das wir erworben hatten, ließen sie in dem Glauben, dass es keine Worte gebe, weil wir wussten, dass sie unseren täglich verwendeten Wortschatz nicht lernen wollten. Wir waren sicher, dass sie nicht wissen wollten, was wir wussten – wir wollten es ja selber nicht wissen.
Niemand war innendrin bei uns (und natürlich wünschten wir uns nicht, ein Kind im Freundeskreis möge ATRT haben, damit wir mit den Eltern darüber reden konnten). In einem Ratgeber für Eltern von hirntumorkranken Kindern, den wir im Krankenhaus bekamen, wurde ATRT nicht eigens erwähnt, weil diese Tumorvariante so selten war. Genauer gesagt, ATRT wurde überhaupt nicht erwähnt. Wir konnten nicht einmal innerhalb der Gruppe von Familien mit tumorkranken Kindern kommunizieren. Die Wände des Aquariums, in dem wir uns befanden, waren aus den Worten anderer Menschen gemacht.
Dank Mingus konnte Ella ihren Wortschatz praktizieren und erweitern. Mingus bot ihr auch die Gesellschaft und die Tröstungen, die sie von ihren Eltern kaum noch bekam. Wenn ich sie morgens zur Schule brachte, erzählte sie Fortsetzungsgeschichten von ihm, deren abstruse Plots tief in ihrem Wortschwall verborgen waren. Hin und wieder sahen wir sie mit Mingus spielen (dem Alien oder der imaginären Figur), wir sahen, wie sie ihm imaginäre Medikamente gab oder seine Temperatur maß und dabei die Worte verwendete, die sie bei Besuchen im Krankenhaus aufgeschnappt oder unseren Gesprächen über Isabels Krankheit abgelauscht hatte. Sie erzählte uns, dass Mingus einen Tumor habe und untersucht werden müsse, aber in zwei Wochen würde es ihm schon bessergehen. Einmal hatte Mingus sogar eine kleine Schwester namens Isabel (nicht identisch mit Ellas Schwesterchen), die ebenfalls einen Tumor hatte, in zwei Wochen aber geheilt sein würde. (Länger als zwei Wochen, dachte ich, konnten Teri und
Weitere Kostenlose Bücher