Das Buch mit dem Karfunkelstein
Dieses Wort ist ein Verb, das sieht man an der Endung«, stellte er fest.
»Und was soll das dann für eine Botschaft sein?«, fragte Hannes. »Heißt das, Paul soll sich keine Gedanken machen?«
»Oder«, rief Agnes empört, »vielleicht heißt es sogar, Paul hätte keinen Verstand?«
»Nein, das ergibt keinen Sinn«, stöhnte Jakob.
»Die Frage ist ja auch, wer so etwas schreibt«, warf Großvater Bertram dazwischen.
»Ein Mönch natürlich. Es ist doch auf Latein!«, meinte Agnes.
»Oder ein Novize«, sagte Paul. »Die können das auch.«
Er starrte auf die Schrift. Es sollte eine Drohung sein, das fühlte er. Warum machte sich sonst jemand die Mühe, ihn bis zum
Kräutergarten zu verfolgen und einen Pergamentstreifen ans Fenster zu stecken? Die ganze Zeit hatte er sich zusammengenommen,
aber das machte ihn jetzt richtig wütend.
»Ich muss unbedingt wissen, was das wirklich heißt!«, rief er zornig. »Aber hier im Kloster kann ich niemanden fragen. Ich
traue keinem mehr. Und Bruder Gregor will ich nicht fragen wegen der Sache mit den Pergamentbögen«, fügte er etwas kleinlauter
hinzu.
»Also, ich muss jetzt zurück zur Burg.« Hannes schnappte sich das Pergament und nahm den Korb, in dem er Großvater Bertram
sein Essen aus der Burgküchegebracht hatte. »Aber vorher gehe ich noch bei Vater Ambrosius vorbei.«
»Wer ist denn das?«, fragte Paul.
»Unser Stadtpfarrer«, erklärte Agnes. »Der sollte doch wohl Latein können!«
»Sehr gut«, nickte Jakob. »Und ich gehe inzwischen mit Paul in die Bibliothek. Wer weiß, vielleicht finden wir dort etwas,
das uns weiterhilft.«
Paul nickte zögernd. »Wir können Bruder Gregor zumindest fragen. Vielleicht zeigt er sie uns ja.«
Die Kinder wollten keine Zeit mehr verlieren. Je eher sie den Diebstahl aufklärten, desto besser für Paul. Rasch verabschiedeten
sie sich von Großvater Bertram, und während Paul und Jakob zum Skriptorium hinübergingen, rannten Agnes und Hannes zur Stadtpforte.
Bruder Bernhard, der freundliche Pförtner, konnte ihnen das kleine Tor gar nicht schnell genug öffnen. Wie schon so oft schaute
er den Kindern kopfschüttelnd nach.
»Immer haben sie es eilig!«, murmelte er lächelnd vor sich hin, als er gemächlich wieder in sein Haus neben der Pforte zurückging.
»Diese Kinder!«
Agnes und Hannes liefen weiter die Lange Gasse hinunter. Sie bogen beim Rathaus um die Ecke und hielten atemlos an. Mitten
auf dem Marktplatz stand die große Stadtkirche. Ein Stück weiter dahinter in Richtung der Burg war das steinerne Haus zu sehen,
das Agnes’ Vater gehörte und die Fachwerkhäuser rund um den Marktplatz überragte. Der Gewürzkrämer Josef Steinhaus war ein
reicher Mann, das sah man schon diesem Haus an.
Gegenüber, bei der Vogtei direkt an der Ecke der Burggasse, stand heute niemand am Pranger. Offenbar verlief der Markt ohne
Störungen oder Betrügereien.
Plötzlich packte Agnes Hannes am Arm.
»Der Stadtvogt!«, rief sie. »Er spricht Recht und sorgt für Ordnung. Und es geht doch um Diebstahl! Wenn mein Onkel sich mit
dem Stadtvogt auch auf die Suche macht, dann müssen wir den Dieb doch finden! Schließlich geht es um sein eigenes Buch, das
er dem Kloster geschenkt hat.«
»Genau!«, strahlte Hannes. »Das ist die Lösung. Ist denn dein Onkel noch hier?«
»Ja, das ist ja das Gute. Er und Tante Susanna bleiben noch zwei Wochen bis Allerheiligen. Ich muss auf der Stelle nach Hause!
Gehst du allein zum Pfarrer?«
»In Ordnung«, nickte Hannes und machte sich sofort auf den Weg zur Kirche.
Agnes flitzte über den Marktplatz nach Hause. Es war ihr egal, ob ihre Mutter durchs Fenster sehen würde, dass sie wieder
einmal rannte, statt mit niedergeschlagenen Augen sittsam zu gehen, wie sich das für ein Mädchen und darüber hinaus die Tochter
eines Kaufmanns gehörte.
Aber ihre Mutter hatte nichts von allem gesehen. Als Agnes in den Flur trat, stand Adelgunde dort herausgeputzt in ihrem neuen
Kleid. Ihr Schwager Caspar Zwolle hatte ihr dunkelroten Samt geschenkt, den sie sofort zum Schneider getragen hatte. Tante
Susanna kam gerade die Treppe herunter und sah in ihrem blauenKleid mit der silbernen Stickerei um den Halsausschnitt genauso elegant aus wie Adelgunde. Beide waren schließlich Frauen
von reichen Kaufleuten. Und mit feinen Stoffen konnte man das am besten zeigen, denn sie waren das Teuerste, was es zu kaufen
gab.
»Was machst du denn für ein Gesicht?«, fuhr
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