Das Chagrinleder (German Edition)
vertikalen Holunderzweig herabtreibt, und also mit Notwendigkeit hier« – er deutete auf die Öffnung des Blumentopfes – »eine Leistung hervorbringen, die tausendmal beträchtlicher ist als die Leistung, die da eingeführt wird.« Der Gelehrte wies dabei mit dem Finger auf die Holzröhre, die senkrecht in dem Ton befestigt war.
»Das ist ganz einfach«, meinte Raphael.
Planchette lächelte.
»Mit anderen Worten«, fuhr er mit der hartnäckigen Logik, die den Mathematikern eigen ist, fort, »müßte man, wenn man dem Anprall des Wassers Widerstand leisten wollte, auf jeden Teil der großen Oberfläche eine Kraft wirken lassen, die der in der vertikalen Röhre gleich ist; nur von dem Unterschied abgesehen, daß, wenn die flüssige Säule hier einen Fuß hoch ist, die tausend kleinen Säulen der großen Oberfläche nur um ein Geringes ansteigen werden. Jetzt aber« – damit stieß Planchette seine Holunderstöckchen verächtlich zur Seite – »denken wir uns diesen komischen kleinen Apparat durch Metallrohre von genügender Stärke und Länge ersetzt. Bedecken wir nun die flüssige Oberfläche des großen Reservoirs mit einer starken beweglichen Platte, setzen wir ihr eine andere, deren Widerstandskraft und Festigkeit erprobt ist, entgegen, verschaffen wir uns ferner die Möglichkeit, der flüssigen Masse durch das kleine Vertikalrohr fortgesetzt Wasser hinzuzufügen, so muß der Gegenstand zwischen den beiden festen Platten notwendigerweise dem ungeheuren Druck, der unaufhörlich auf ihn ausgeübt wird, nachgeben. Das Mittel, durch das kleine Rohr fortwährend Wasser zuzuführen, ist für die Mechanik ein Kinderspiel, ebenso das Verfahren, den Druck der flüssigen Masse auf eine Platte zu übertragen. Zwei Kolben und ein paar Ventile genügen. Verstehen Sie nun, Verehrtester« – damit faßte er Valentin am Arm –, »daß es kaum einen Stoff geben kann, der, wenn man ihn zwischen diese beiden unaufhörlichen Widerstände bringt, sich nicht zwangsläufig ausdehnen müßte.« – »Wie, der Verfasser der »Lettres provinciales« hat das erfunden?« rief Raphael.
»Er allein, Monsieur. Die Mechanik kennt nichts Einfacheres und nichts Schöneres. Das entgegengesetzte Prinzip, die Expansionskraft des Wassers, hat die Dampfmaschine hervorgebracht. Aber die Expansionskraft des Wassers geht nur bis zu einem gewissen Grade, während seine Nichtkomprimierbarkeit, die eine gewissermaßen negative Kraft ist, notwendigerweise unendlich ist.«
»Wenn dieses Leder sich dehnt«, sagte Raphael, »verspreche ich Ihnen, Blaise Pascal [Fußnote: Pascal , Blaise (1623-1662): französischer Schriftsteller, Philosoph, Mathematiker und Physiker. Als Parteigänger der Jansenisten veröffentlichte er 1656/57 seine berühmte Streitschrift gegen die Jesuiten] eine Kolossalstatue zu errichten, einen Preis von 100000 Francs für das beste Problem zu stiften, dessen Lösung der Mechanik in jedem Jahrzehnt gelingt, Ihre Nichten und Großnichten auszustatten und schließlich ein Hospital für verrückte oder verarmte Mathematiker zu gründen.«
»Das wäre sehr nützlich«, erwiderte Planchette und fuhr dann mit der Ruhe eines Mannes, der nur in der Sphäre des Verstandes lebt, fort: »Gehen wir also morgen zu Spieghalter. Dieser treffliche Mechaniker hat nach meinen Angaben unlängst eine vervollkommnete Maschine gebaut, mit der ein Kind tausend Bund Heu in seinen Hut brächte.«
»Auf morgen, Monsieur.«
»Auf morgen.«
»Da sage mir noch einer was von der Mechanik!« rief Raphael. »Ist sie nicht die schönste aller Wissenschaften? Der andere mit seinen Onagern, seinen Klassen, seinen Enten, seinen Gattungen und seinen Glasgefäßen voller Scheußlichkeiten taugte zu weiter nichts, als in einem Café die Billardstöße zu markieren.«
Am anderen Tag suchte Raphael ganz vergnügt Planchette auf, und sie fuhren zusammen in die Rue de la Santé, [Fußnote: Rue de la Santé : Straße der Gesundheit] ein Name, der von guter Vorbedeutung schien. Spieghalter hatte einen riesigen Betrieb; der junge Mann sah überall rote und donnernde Eisenhämmer. Es war ein Feuerregen, eine Sintflut von Nägeln und Haken, ein Ozean von Kolben, Schrauben, Hebeln, Stangen, Querstücken, Feilen, Muttern, ein Meer von Gußeisen, Holz, Ventilen und Eisenstangen. Die Feilspäne machten das Atmen schwer. In der Luft lag Eisen, die Männer waren mit Eisen bedeckt, alles stank nach Eisen, das Eisen hatte Leben, hatte Organe, es verflüssigte sich, bewegte sich,
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