Das Chagrinleder (German Edition)
Zeitungen!«
»Nicht übel, für einen Journalisten! Aber sei still, wir sind von lauter Abonnenten umgeben. Der Journalismus, siehst du, ist die Religion der modernen Gesellschaft, und darin liegt ein Fortschritt.«
»Wie das?«
»Die Pontifexe müssen nicht glauben und das Volk auch nicht ...«
Indem sie so wie ehrbare Leute, die das ›De Viris illustribus‹ [Fußnote: › De Viris illustribus : lat., ›Über berühmte Männer, Biographiensammlung des römischen Geschichtsschreibers Cornelius Nepos (99-24 v. Chr.)] seit vielen Jahren kannten, plauderten, gelangten sie zu einem der vornehmen Häuser der Rue Joubert.
Emile war ein Journalist, der durch Nichtstun mehr Berühmtheit erlangt hatte als andere durch ihre Erfolge. Ein scharfer Kritiker, voll Schwung und beißender Ironie, besaß er alle Vorzüge, die seine Fehler mit sich brachten. Unverhohlen und lachend sagte er einem Freund tausend Bosheiten ins Gesicht, den er in dessen Abwesenheit mutig und aufrichtig verteidigte. Er spottete über alles, selbst über seine Zukunft. Stets in Geldnöten, verharrte er wie alle Menschen von einiger Bedeutung in unsagbarer Faulheit und warf nur manchmal solchen Leuten mit einem Wort ein ganzes Buch an den Kopf, die in einem ganzen Buch noch nicht einmal ein einziges Wort zu sagen hatten. Mit Versprechungen ging er sehr verschwenderisch um, doch hielt er sie nie, und Vermögen und Ruhm machten ihm so wenig Sorgen, daß er Gefahr lief, seine Tage im Spital zu beschließen. Ein Freund übrigens bis zum bitteren Ende, ein großmäuliger Zyniker und doch harmlos wie ein Kind, arbeitete er nur, wenn ihm der Sinn danach stand oder die Not ihn zwang.
»Wir werden eine famose Mahlzeit halten, wie Meister Alcofribas [Fußnote: Meister Alcofribas : Gestalt aus dem Roman ›Gargantua und Pantagruel‹ von François Rabelais.] zu sagen beliebte«, sprach er zu Raphael und wies auf die Kästen mit Blumen, die das Treppenhaus schmückten und mit Wohlgeruch erfüllten.
»Ich liebe warme, mit Teppichen ausgelegte Vorhallen«, sagte Raphael. »Luxus schon im Treppenhaus ist in Frankreich selten. Hier lebe ich auf.«
»Und da oben wollen wir wieder einmal trinken und lustig sein, mein armer Raphael. Wohlan denn! Ich hoffe, wir werden die Sieger sein und diese Köpfe da zu unseren Füßen sehen.«
Dann zeigte er spöttisch auf die Gäste, als sie in einen hell erleuchteten Salon mit reicher Vergoldung traten, wo sie sogleich von den bemerkenswertesten jungen Leuten von Paris begrüßt wurden. Einer von ihnen hatte soeben ein neues Talent offenbart und mit seinem ersten Gemälde den glorreichen Malern der Kaiserzeit den Rang streitig gemacht. Ein anderer hatte tags zuvor ein Buch veröffentlicht, voll Kraft und Frische und einer gewissen Geringschätzung des literarisch Althergebrachten, das der modernen Schule neue Wege zeigte. Ein Stück weiter unterhielt sich ein Bildhauer, dessen ungeschlachte Züge ein kraftvolles Genie verrieten, mit einem jener kalten Spötter, die, je nachdem, Überlegenheit entweder gar nicht oder überall feststellen wollen. Da lauerte der geistreichste unserer Karikaturisten mit boshaftem Blick und spitzer Zunge, die beißenden Witzreden in Bleistiftstriche umzusetzen. Dort plauderte jener junge verwegene Schriftsteller, der wie kein anderer die Quintessenz der politischen Ideen herauszudestillieren verstand oder spielend den Gedankengehalt eines Vielschreibers resümierte, mit jenem Poeten, vor dessen Werken alle zeitgenössischen Dichtungen verblassen würden, wäre sein Talent so mächtig wie sein Haß. Beide versuchten sie, die Wahrheit und die Lüge zu umgehen, und tauschten also sanfte Schmeichelreden miteinander aus. Ein berühmter Musiker tröstete einen jungen Politiker, der vor kurzem von der Tribüne gefallen war, ohne sich ein Leids zu tun, im sentimentalen Moll mit einem spöttischen Unterton. Junge Dichter ohne Stil standen neben jungen Dichtern ohne Einfälle, poetische Prosaiker neben prosaischen Poeten. Ein junger Saint-Simonist, [Fußnote: Saint-Simonist : Anhänger der Lehre des französischen Sozialphilosophen Claude-Henri Comte de Saint-Simon (1760 – 1825), einem Hauptvertreter des utopischen Sozialismus] der so naiv war, an seine Lehre zu glauben, wollte voller Mitgefühl diese unvollkommenen Wesen einen, wahrscheinlich um sie zu Bekennern seines Ordens zu machen. Ferner waren zwei oder drei Männer der Wissenschaft anwesend, die ihrer Bestimmung nach immer Stickstoff in die
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