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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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das Silbergeschirr funkelt; und jeder glänzende Strahl sollte für ihn ein Dolchstoß sein?... Nicht doch! Ebensogut könnte man an Mohammed glauben. Wenn jene Leute recht hätten, so würden sich hier dreißig edelgeartete Männer anschicken, die Eingeweide einer Familie zu verspeisen und ihr Blut zu trinken. Und wir beiden jungen treuherzigen Enthusiasten sollten an diesem Greuel teilhaben! Ich habe große Lust, unsern Kapitalisten zu fragen, ob er ein anständiger Mensch ist.« »Nein, nicht jetzt!« rief Raphael, »erst wenn er volltrunken ist; dann werden wir zumindest schon gespeist haben.«
    Die beiden Freunde nahmen lachend Platz. Mit einem Blick, der dem Wort zuvorkam, entrichtete zuerst jeder Gast dem prächtigen Anblick seinen Tribut an Bewunderung; die lange Tafel war mit einem schneeweißen Tuch bedeckt, auf dem die Gedecke symmetrisch angeordnet und von goldbraunen Brötchen gekrönt waren. Die Kristallgläser spiegelten mit ihren glitzernden Reflexen die Farben des Regenbogens, die Kerzen zeichneten ein Kreuzfeuer bis ins Unendliche, die unter Silberdeckeln aufgetragenen Speisen reizten den Appetit und die Neugierde. Es wurde wenig gesprochen. Die Tischnachbarn sahen sich gegenseitig an. Der Madeira kreiste. Dann erschien der erste Gang in seiner ganzen Glorie; er hätte dem seligen Cambacérès [Fußnote: Cambacérès , Jean-Jacques Régis de (1753-1824): während der Französischen Revolution Präsident des Nationalkonvents, danach Mitglied des Wohlfahrtsausschusses und Zweiter Konsul nach Napoleon; im Kaiserreich Erzkanzler und Senatspräsident] zur Ehre gereicht, und Brillat-Savarin [Fußnote: Brillat-Savarin , Anthelme (1755-1826): französischer Feinschmecker, bekannt geworden durch sein Werk ›Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über das höhere Tafelvergnügen‹, einer Huldigung der Gastronomie und der Tafelfreuden] hätte ihn höchlich gepriesen. Bordeaux und Burgunder, weißer und roter, wurden mit königlicher Verschwendung ausgeschenkt. Der erste Teil dieses Festmahls war in jedem Punkt der Exposition einer klassischen Tragödie vergleichbar. Der zweite Akt wurde etwas geschwätzig. Die Gäste hatten gehörig getrunken, wobei sie die Weine je nach Laune wechselten, so daß sich in dem Augenblick, als man die Reste dieses lukullischen Mahles abtrug, bereits die lebhaftesten Auseinandersetzungen entsponnen hatten. Blasse Stirnen röteten sich, Nasen färbten sich purpurn, die Gesichter flammten, die Augen funkelten. Während dieser Morgenröte der Trunkenheit überschritt die Unterhaltung noch nicht die Grenzen des Anstands, aber Neckereien und Witzeleien entfuhren nach und nach jedem Munde; dann hob die Verleumdung ganz leise ihren kleinen Schlangenkopf und sprach mit flötender Stimme; ein paar Duckmäuser horchten gespannt auf und hofften, ihre Nüchternheit wahren zu können. Der zweite Gang fand die Geister also schon ganz erhitzt. Jeder aß beim Sprechen, sprach beim Essen, jeder trank, ohne der Menge zu achten, die ihm da durch die Kehle floß, so wohlschmeckend und aromatisch war der Wein, so ansteckend wirkte das Beispiel. Taillefer setzte seinen Stolz darein, die Gäste anzufeuern, und ließ nun die schweren Rhôneweine, den feurigen Tokaier, den berauschenden alten Roussillon auftragen. Wie frisch eingespannte Postpferde ließen dann alle diese Männer, von der prickelnden Glut des ungeduldig erwarteten, nun überreichlich genossenen Champagners aufgepeitscht, ihren Geist in leeres Gerede hineingaloppieren, auf das niemand hört; sie fingen an, jene Geschichten zu erzählen, die keine Zuhörer finden; wiederholten hundertmal jene Fragen, die unerwidert bleiben. Das Gelage allein entfaltete seine laute Stimme, eine Stimme aus hundertfältigem verworrenen Geschrei, die ins Grandiose anschwillt wie ein Crescendo von Rossini. [Fußnote: Rossini , Gioacchino (1792-1868): italienischer Opernkomponist, feierte während der Restauration große Erfolge in Paris] Dann kamen die verfänglichen Tischreden, die Prahlereien, die Herausforderungen. Alle begaben sich ihrer geistigen Fähigkeiten, um dafür die von Fässern, Tonnen und Zubern anzunehmen. Scheinbar hatte jeder zwei Stimmen. Es kam ein Moment, wo die Herren alle auf einmal redeten und die Diener lächelten. Aber in diesem Wirrwarr von Worten, wo paradoxe Meinungen und grotesk kostümierte Wahrheiten durch das Geschrei, durch die unbewiesenen Behauptungen und selbstherrlichen Urteile hindurch aufeinanderprallten, wie im

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