Das Chagrinleder (German Edition)
Sylphe [Fußnote: Sylphe : grch., Luftgeist] unter mein Dach schlüpfte und für mein leibliches Wohl sorgte. Eines Abends erzählte mir Pauline mit rührender Naivität ihre Geschichte. Ihr Vater war Schwadronschef bei den berittenen Grenadieren der kaiserlichen Garde gewesen. Beim Übergang über die Beresina [Fußnote: Übergang über die Beresina : Auf ihrem Rückzug von Moskau überquerten die Franzosen die Beresina (26.-28. November 1812), wobei Napoleon mehr als die Hälfte der ihm noch verbliebenen Soldaten verlor] war er von den Kosaken gefangengenommen worden; später, als Napoleon ihn austauschen wollte, ließen ihn die russischen Behörden vergeblich in Sibirien suchen; nach den Aussagen anderer Gefangener war er entflohen und plante, sich nach Indien durchzuschlagen. Seither hatte meine Wirtin, Madame Gaudin, keinerlei Nachricht von ihrem Manne erlangen können. Die Unglücksjahre von 1814 und 1815 waren hereingebrochen; allein, ohne Hilfe und Hilfsquellen, hatte sie es unternommen, ein Hotel zu unterhalten, um ihre Tochter zu ernähren. Sie hoffte immer noch, ihren Gatten wiederzusehen. Ihr größter Kummer war, daß sie Pauline keine Erziehung angedeihen lassen konnte, ihrer Pauline, dem Patenkind der Fürstin Borghese, [Fußnote: Fürstin Borghese : Pauline Bonaparte (1780-1825), heiratete 1803 den Fürsten Camillo Borghese und wurde 1806 Herzogin von Guastalla] das die von ihrer kaiserlichen Beschützerin verheißene glänzende Zukunft nicht Lügen strafen sollte. Als Madame Gaudin mir diesen bitteren Schmerz, der an ihrem Herzen nagte, anvertraute und mit ergreifendem Ton zu mir sagte: ›Gern würde ich den Fetzen Papier, der Gaudin zum Baron des Kaiserreichs macht, und die Ansprüche auf die Schenkung von Wistchnau dafür hingeben, Pauline in Saint-Denis erzogen zu wissen!‹, da erbebte ich plötzlich, und um die Gefälligkeiten, mit denen beide Frauen mich überhäuften, zu vergelten, hatte ich den Einfall, mich zu erbieten, Paulines Erziehung zu vervollständigen. Die beiden Frauen nahmen meinen Vorschlag ebenso treuherzig auf, wie ich ihn gemacht hatte. So kamen denn für mich Stunden der Erholung. Die Kleine hatte die glücklichsten Anlagen; sie lernte so leicht, daß sie mich bald auf dem Klavier übertraf. Sie gewöhnte sich daran, an meiner Seite laut zu denken und entfaltete den ganzen Liebreiz eines Herzens, das sich wie der Kelch einer Blume unter den Strahlen der Sonne dem Leben öffnet; sie heftete ihre schwarzen Samtaugen, die ständig zu lächeln schienen, auf mich und lauschte mir andächtig und freudig, ihre Lektionen repetierte sie mit sanfter Schmeichelstimme und freute sich kindlich, wenn ich mit ihr zufrieden war. Die Mutter, die mit wachsender Unruhe jede Gefahr von dem Mädchen fernhalten wollte, das beim Heranreifen alles erfüllte, was ihre kindliche Anmut verheißen hatte, sah es mit Vergnügen, daß sie sich den ganzen Tag einsperrte, um zu lernen. Da sie selbst kein Klavier besaß, benutzte Pauline meine Abwesenheit, um zu üben. Wenn ich heimkam, fand ich sie in meiner Kammer; sie war immer in sehr bescheidener Kleidung, aber die Bewegung enthüllte ihren geschmeidigen Wuchs und den ganzen Reiz ihrer Person unter dem groben Stoff. Wie die Heldin des Märchens von der Eselshaut hatte sie den zierlichsten Fuß in plumpen Schuhen stecken. Aber all diese Schätze, dieser Jungmädchenreiz, diese strahlende Schönheit waren für mich gleichsam verloren. Ich hatte es mir auferlegt, in Pauline nur eine Schwester zu erblicken, ich hätte es schändlich gefunden, das Vertrauen der Mutter zu hintergehen. Ich bewunderte das reizende Mädchen wie ein Gemälde, wie das Bildnis einer verstorbenen Geliebten; es war mein Geschöpf, meine Statue. Als ein neuer Pygmalion [Fußnote: Pygmalion : legendärer Bildhauer, der sich in eine von ihm selbst geschaffene weibliche Statue verliebt, die Aphrodite auf seine Bitten lebendig werden läßt] wollte ich aus einer lebendigen, blühenden Jungfrau, die fühlte und sprach, einen Marmor machen. Ich war sehr streng mit ihr; doch je mehr schulmeisterliche Gewalt ich sie fühlen ließ, desto sanfter und unterwürfiger wurde sie. Wenn ich auch in meiner Zurückhaltung und Enthaltsamkeit von edlen Gefühlen bestärkt wurde, so war ich doch nicht frei von berechnenden Erwägungen. Redlichkeit in Geldangelegenheiten ohne Redlichkeit der Gesinnung begreife ich nicht. Eine Frau betrügen oder Bankrott machen, ist für mich immer das gleiche gewesen. Wenn
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