Das Chagrinleder (German Edition)
geschrieben, gelesen; mein Leben war wie ein langes Strafpensum. Obwohl ich verweichlicht war und zu orientalischer Faulheit neigte, obwohl ich in meine Träume verliebt und sinnlicher Natur war, habe ich doch immer gearbeitet und mir die Freuden des Pariser Lebens versagt. Ich schätzte Tafelgenüsse und lebte aufs kärglichste; ich liebte das Wandern und das Reisen zur See, sehnte mich, fremde Länder kennenzulernen, ja, ich hätte noch Vergnügen daran gefunden, gleich einem Kinde, Kieselsteine auf dem Wasser hüpfen zu lassen, und bin doch beständig mit der Feder in der Hand auf einem Fleck sitzengeblieben. Trotz meiner Redseligkeit lauschte ich stillschweigend den Vorlesungen der Professoren in der Bibliothek und im Museum; ich schlief auf meinem einsamen Lager wie ein Benediktinermönch, und doch war eine Frau mein einziger Wunsch, ein ständig gehegtes und nie erfülltes Verlangen. Kurz, mein Leben war ein grausamer Widerspruch, eine fortwährende Lüge. Aber so ist der Mensch! Manchmal brachen meine natürlichen Triebe hervor wie eine Feuersbrunst, die lange im verborgenen geschwelt hat. Wie in hitzigen Fieberträumen sah ich mich, der ich doch all die glühend ersehnten Frauen entbehrte und in äußerster Armut in einer elenden Künstlermansarde hauste, von hinreißenden Frauen umgeben. Ich lehnte in den weichen Polstern einer glänzenden Equipage und fuhr durch die Straßen von Paris. Von Lastern ausgehöhlt, stürzte ich mich in Ausschweifungen, wollte alles, besaß alles, war nüchtern trunken wie der heilige Antonius in seiner Versuchung. Glücklicherweise löschte der Schlaf schließlich diese verzehrenden Visionen; am anderen Tag rief mich lächelnd die Wissenschaft wieder und ich war ihr treu. Ich denke mir, daß auch die sogenannten tugendhaften Frauen oft von solchen Stürmen der Raserei, der Begierde und der Leidenschaft heimgesucht werden, die sich gegen unseren Willen in uns erheben. Solche Phantasien sind nicht ohne Reiz; gleichen sie nicht jenen Winterabendplaudereien, wo man von seinem Kaminfeuer aus bis nach China reist? Aber was wird während dieser köstlichen Fahrten, wo der Gedanke alle Hindernisse überspringt, aus der Tugend? Während der zehn ersten Monate meiner Zurückgezogenheit führte ich das dürftige und einsame Leben, das ich dir geschildert habe; am frühen Morgen holte ich, ohne daß jemand mich sah, meine Vorräte für den Tag ein; ich räumte mein Zimmer auf, war Herr und Diener zugleich und spielte den Diogenes [Fußnote: Diogenes von Sinope (412-323 v. Chr.): griechischer Philosoph, Zyniker; bekundete seine Verachtung gegenüber Reichtum und sozialen Konventionen dadurch, daß er in einer Tonne lebte] mit einem unglaublichen Stolz.
Aber nach dieser Zeit, während der die Wirtin und ihre Tochter meine Gewohnheiten und meine Sitten auskundschafteten, meine Person prüften und mein Elend verstanden, vielleicht weil sie selber sehr unglücklich waren, knüpften sich zwischen ihnen und mir unvermeidliche Beziehungen an. Pauline, das reizende Geschöpf, dessen zarte, kindliche Grazie mich eigentlich erst dorthin geführt hatte, erwies mir verschiedene Dienste, die ich unmöglich abweisen konnte. Alle traurigen Schicksale sind verwandt; sie sprechen dieselbe Sprache und haben die gleiche Großherzigkeit, die Großherzigkeit jener, die, da sie nichts besitzen, freigebig sind mit ihren Gefühlen und ihre Zeit und ihre Person dareinsetzen. Unmerklich nistete Pauline sich bei mir ein, wollte mich bedienen, und ihre Mutter widersetzte sich dem nicht. Ich sah, wie die Mutter selbst meine Wäsche flickte und errötete, als ich sie bei dieser barmherzigen Beschäftigung ertappte. Da ich, ohne es zu wollen, ihr Schützling geworden war, sträubte ich mich gegen ihre Dienste nicht. Um diese eigentümliche Zuneigung zu verstehen, muß man die Leidenschaft der Arbeit kennen, die Tyrannei der Ideen und jenen natürlichen Widerwillen, den ein Mensch, der in einer geistigen Welt lebt, gegen die Kleinigkeiten des materiellen Lebens empfindet. Konnte ich der zarten Aufmerksamkeit widerstehen, mit der Pauline mir mit leisen Schritten meine bescheidene Mahlzeit brachte, wenn sie bemerkte, daß ich seit sieben oder acht Stunden nichts zu mir genommen hatte? Mit weiblicher Anmut und kindlicher Unbefangenheit lächelte sie mir zu und bekundete durch ein Zeichen, daß ich sie nicht beachten solle. Sie war Ariel, [Fußnote: Ariel : Luftgeist aus Shakespeares Drama ›Der Sturm‹ (1611)] der wie eine
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