Das Chagrinleder (German Edition)
Wette? Ich kann es dir beweisen. Nehmen wir das Maß ...«
»Oh je, wenn er doch schlafen wollte!« rief Émile, als er sah, wie Raphael im Speisesaal hin und her suchte.
Dank der seltsamen Hellsicht, die bei Trunkenen manchmal auftritt und die etwas ganz anderes ist als die stumpfen Visionen des Rausches, gelang es Valentin mit affenartiger Behendigkeit, ein Schreibzeug und eine Serviette zu beschaffen, wobei er ununterbrochen wiederholte: »Wir wollen Maß nehmen! Wir wollen Maß nehmen!«
»Schön«, sagte Émile, »wir wollen Maß nehmen!«
Die beiden Freunde entfalteten die Serviette und legten das Chagrinleder darauf. Émile, dessen Hand sicherer schien als die Raphaels, zog mit der Feder die Konturen des Talismans nach, während sein Freund zu ihm sagte: »Ich habe mir 200000 Livres Rente gewünscht, nicht wahr? Wenn ich sie bekomme, dann wirst du sehen, wie mein Leder kleiner geworden ist.«
»Ja. Schlaf jetzt. Soll ich dich auf das Sofa legen? Liegst du gut?«
»Jawohl, du Pressebaby! Du sollst mein Spaßmacher werden, du sollst mir die Fliegen wegjagen. Der Freund im Unglück hat ein Recht, der Freund der Mächtigen zu werden. Und ich werde dir – gar – ren, Ha – van ...«
»Nun, nun, schlaf nur dein Rauschgold aus, Millionär!«
»Und du deine Artikel. Gute Nacht! Willst du wohl Nebukadnezar gute Nacht sagen! Liebe! Zu trinken! Frankreich ... Ruhm und reich ... reich ...«
Bald vereinigte sich das Schnarchen der beiden Freunde mit der Musik, die aus den Salons erscholl. Ein Konzert, das niemand hörte! Die Kerzen erloschen eine nach der anderen und zersprengten ihre kristallenen Manschetten. Die Nacht hüllte ihren Schleier über diese endlose Orgie, in der Raphaels Erzählung wie eine Orgie von Worten gewesen war, von Worten ohne Ideen, und von Ideen, denen oft der rechte Ausdruck fehlte.
Am nächsten Tag gegen Mittag stand die schöne Aquilina gähnend und müde auf; die Wangen vom Abdruck der Samtpolster marmoriert, auf denen ihr Kopf gelegen hatte. Euphrasie, die von den Bewegungen ihrer Gefährtin geweckt wurde, fuhr mit einem heiseren Schrei auf; ihr hübsches Gesicht, das am Abend zuvor so frisch und weiß gewesen, war gelb und fahl wie das einer Dirne, die ins Spital muß. Allmählich regten sich auch die anderen Gäste unter dumpfen Seufzern, ihre Arme und Beine waren steif, tausend Plagen drückten sie beim Erwachen nieder. Ein Diener zog die Gardinen hoch und öffnete die Fenster der Salons. Die Gesellschaft fand sich wieder auf den Beinen, die warmen Sonnenstrahlen, die auf die Gesichter der Schläfer fielen, belebten sie. Der unruhige Schlaf hatte die eleganten Frisuren zerstört und die Kleider zerknittert, so boten die Frauen im hellen Tageslicht einen abstoßenden Anblick: ihre Haare hingen wirr herunter, der Ausdruck ihrer Züge hatte sich verändert, ihre strahlenden Augen waren vor Übermüdung trübe geworden. Die gelbe Haut, die bei Kerzenschein schimmerte, war abscheuerregend; die blutleeren Gesichter, so zart und weich, als sie ausgeruht waren, sahen nun grün aus; die sonst lieblichen roten Münder waren jetzt trocken und blaß und wiesen die schmählichen Spuren der Trunkenheit auf. Die Männer wichen vor den nächtlichen Geliebten zurück, die sie so allen Glanzes ledig sahen, leichenhaft, gleich zertretenen Blumen, die nach einer Prozession auf der Straße liegen. Diese hochmütigen Männer jedoch waren noch schrecklicher anzusehen. Diese menschlichen Gesichter hätten sie zurückschaudern lassen mit ihren hohlen schwarz umränderten Augen, die vom Wein umnebelt und durch einen üblen Schlaf, der mehr ermüdend als erfrischend war, getrübt, nichts wahrzunehmen schienen. Diese übernächtigten Gesichter, auf denen die physischen Triebe nackt zutage traten, ohne die Poesie, mit der unsere Seele sie schmückt, hatten etwas grauenhaft Wildes und Bestialisches an sich. Dieses Erwachen des hüllenlosen ungeschminkten Lasters, dieses entblößten, kalten, hohlen Gerippes des Bösen, das, der Sophismen des Geistes oder der Verzauberungen des Luxus beraubt, diese unverzagten Streiter entsetzte, so sehr sie auch den Kampf mit der Ausschweifung gewöhnt waren. Künstler und Kurtisanen blieben stumm und sahen verstört auf die Unordnung in den Räumen, wo das Feuer der Leidenschaft alles verheert und verwüstet hatte. Ein infernalisches Gelächter erhob sich mit einem Male, als Taillefer auf das dumpfe Röcheln seiner Gäste hin sich zur Begrüßung eine Grimasse abquälen
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