Das Daemonenschiff
zitternden Finger gegen seine
Brust.
»Nimm mich!«, flüsterte er. »Ich weiß, dass du es kannst!«
Urd öffnete mühsam die Augen. Ihr Blick flackerte, und etwas
tief darin begann zu erlöschen. Er spürte ihre Angst, den
grausamen Schmerz und die Schwäche, die sie verzehrten, aber
auch ihre abgrundtiefe Verwirrung.
»Du kannst es!«, stieß er hervor. »Bitte, Urd! Tu dasselbe, was
Abu Dun getan hat! Ich weiß, dass du es kannst!«
Und das Unglaubliche geschah. Etwas … berührte ihn, zitternd
und unsicher, ganz sacht wie eine Feder, so zögernd und
furchtsam wie eine Hand, die sich einem Stück glühender Kohle
nähert, tastete nach etwas tief in ihm, von dem sie nicht einmal
wusste, was es war – und tauchte hinein in den Quell pulsierenden, warmen Lebens am Grunde seiner Seele.
Es war nicht so grausam, fordernd und endgültig wie das, was
Abu Dun getan hatte. Im gleichen Moment, in dem sie spürte,
wie seine Kraft zu der ihren wurde, schrak sie beinahe zurück,
aber nicht weit genug und nicht endgültig genug, um die
Verbindung zu trennen. Zum zweiten Mal binnen viel zu kurzer
Zeit spürte Andrej, wie das Leben aus ihm herausgerissen
wurde, und doch war es jetzt vollkommen anders. So sehr Abu
Dun auch sein Freund und Vertrauter war, so bedenkenlos er
ihm hundertmal sein Leben anvertraut hatte und es weitere
tausendmal tun würde, so war das, was am Morgen zuvor auf
dem Schiff geschehen war, doch trotzdem ein Kampf gewesen,
ein verzweifeltes Ringen ums Überleben, mit dem sich die
beiden ungleichen Ungeheuer, die in seiner und Abu Duns Seele
schlummerten, gegenseitig zu verzehren versucht hatten. Was
Urd tat, war … anders. Es war sanft, ebenso fordernd und
unbarmherzig wie die Krallen der Bestie, die sich gestern in
seine Seele gegraben hatten, aber da war keine Spur von
Feindseligkeit, keine Gier, sondern ein unendlich tiefes Erstaunen und ein dankbares Nehmen.
Andrej spürte, wie er schwächer wurde, aber er presste Urds
Hand weiter fest gegen seine Brust, bis die Flamme in ihrem
Herzen wieder ruhig und gleichmäßig brannte. Erst dann ließ er
sie los, richtete sich mühsam wieder auf und tastete nach seinem
Schwert. Die Klinge schien Zentner zu wiegen, und als er den
Schild an seinem Arm befestigte und aufstehen wollte, drohte
ihn dessen Gewicht beinahe zu Boden zu reißen. Alles drehte
sich um ihn. In seinem Mund war ein bitterer, scharfer Geschmack, und alle Geräusche erreichten sein Ohr verzerrt und
sonderbar unwirklich. Rings um ihn herum tobten Dutzende
erbitterte Zweikämpfe, und er hörte und spürte das Sterben von
Männern, ohne wirklich darauf reagieren zu können. Er hatte
kaum noch die Kraft zu stehen.
Aber er musste kämpfen. Der Krieger in ihm, der noch zu
klarem, logischem Denken imstande war, erklärte ihm mit
gnadenloser Kälte, dass Thures Männer den Kampf verloren.
Wer immer die Gegner waren, ihre Falle war perfekt geplant
gewesen, und sie waren ausgeruht und offenbar ausgezeichnet
vorbereitet. Es war kein Zufall, dass sie immer zu zweit angriffen und Thures Männer nicht in einer Schlachtformation
attackierten, sondern in eine Unzahl einzelner Handgemenge
verwickelten; Handgemenge, die sie nahezu ausnahmslos zu
gewinnen schienen. Irgendwo in dem Chaos aus ringenden
Schatten glaubte er Thure zu erkennen, vielleicht der Einzige,
der sich wirklich gegen die unheimlichen Angreifer halten
konnte, aber nicht einmal seine gewaltigen Kräfte konnten diese
Schlacht ganz allein schlagen.
Andrej sah noch einmal zu Urd zurück – sie lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen, doch
er spürte, dass sie bei Bewusstsein war – und blickte dann auf
den Piraten hinab, dessen Kehlkopf er mit dem Schwertknauf
zerschmettert hatte. Der Mann starb. Er konnte seine Panik
spüren, seine verzweifelten Versuche zu atmen, aber auch die
Dunkelheit, die bereits in ihm heranwuchs, und jetzt gab es nur
noch eines, was er tun konnte. Wie durch ein Wunder wurde er
in diesem Augenblick nicht von weiteren Piraten attackiert, und
er nutzte diese Chance. Zitternd vor Schwäche sank er neben
dem sterbenden Mann auf ein Knie herab, ließ sein Schwert
fallen und streckte die Hand aus, um das Gesicht des Piraten zu
berühren. Andrej wusste zwar, dass es unmöglich war, dennoch
meinte er im allerletzten Moment eine neue, ungleich schlimmere Angst in dessen Augen aufflackern zu sehen, eine Furcht vor
etwas, das tausendmal schlimmer war
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