Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das doppelte Lottchen

Das doppelte Lottchen

Titel: Das doppelte Lottchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kästner
Vom Netzwerk:
Aus dem Gestrüpp kommt jetzt die Hexe hervor. Es ist aber nicht die Hexe von der Opernbühne, sondern sie ähnelt viel eher der Pralinendame aus der Loge. Sie blickt durch ihr Opernglas zu dem Bettchen hinüber, nickt mit dem Kopf, lächelt sehr hochmütig und klatscht dreimal in die Hände.
    Wie auf Kommando verwandelt sich der dunkle Wald in eine sonnige Wiese. Und auf der Wiese steht ein aus Konfektschachteln gebautes Haus, mit einem Zaun aus Schokoladetafeln. Vögel zwitschern lustig, im Gras hüpfen Hasen aus Marzipan, und überall schimmert es von goldenen Nestern, in denen Ostereier liegen. Ein kleiner Vogel setzt sich aufs Bett und singt so hübsch Koloratur, daß sich Lotte und Luise, wenn auch zunächst nur bis zu den Nasenspitzen, unter ihrer Decke hervortrauen. Als sie nun die Wiese mit den Osterhasen, die Schokoladeneier und das Pralinenhaus sehen, klettern sie schnell aus dem Bett und laufen zum Zaun.
    Dort stehen sie nun in ihren langen Nachthemden und staunen.
    »Spezialmischung!« liest Luise laut vor. »Und Krokant! Und Nougatfüllung!«
    »Und bittere Sonderklasse!« ruft Lotte erfreut. (Denn sie ißt auch im Traum nicht gerne Süßes.) Luise bricht ein großes Stück Schokolade vom Zaun.
    »Mit Nuß!« meint sie begehrlich und will hineinbeißen.
    Da ertönt Hexenlachen aus dem Haus! Die Kinder erschrecken!
    Luise wirft die Schokolade weit weg!
    Und schon kommt Mutti mit einem großen Handwagen voller Brote über die Wiese gekeucht. »Halt, Kinder!« ruft sie angstvoll.
    »Es ist alles vergiftet!«
    »Wir hatten Hunger, Mutti.«
    »Hier habt ihr Brot! Ich konnte nicht früher aus dem Verlag weg!« Sie umarmt ihre Kinder und will sie fortziehen. Doch da öffnet sich die Pralinentür. Der Vater erscheint mit einer großen Säge, wie Holzhauer sie haben, und ruft: »Lassen Sie die Kinder in Ruhe, Frau Körner!«
    »Es sind meine Kinder, Herr Palffy!«
    »Meine auch«, schreit er zurück. Und während er sich nähert, erklärt er trocken: »Ich werde die Kinder halbieren! Mit der Säge!
    Ich kriege eine halbe Lotte und von Luise eine Hälfte, und Sie auch, Frau Körner!«
    Die Zwillinge sind zitternd ins Bett gesprungen.
    Mutti stellt sich, mit ausgebreiteten Armen, schützend vor das Bett. »Niemals, Herr Palffy!«
    Aber der Vater schiebt sie beiseite und beginnt, vom Kopfende her, das Bett durchzusägen. Die Säge kreischt so, daß man friert, und sägt das Bett Zentimeter auf Zentimeter der Länge nach durch.
    »Laßt euch los!« befiehlt der Vater.
    Die Säge kommt den ineinandergefalteten Geschwisterhänden immer näher, immer näher! Gleich ritzt sie die Haut!
    Mutti weint herzzerbrechend.
    Man hört die Hexe kichern.
    Da endlich geben die Kinderhände nach.
    Die Säge schneidet zwischen ihnen das Bett endgültig auseinander, bis zwei Betten, jedes auf vier Füßen, daraus geworden sind.
    »Welchen Zwilling wollen Sie haben, Frau Körner?«
    »Beide, beide!«
    »Bedaure«, sagt der Mann. »Gerechtigkeit muß sein. Na, wenn Sie sich nicht entschließen können – ich nehm’ die da! Mir ist es eh gleich. Ich kenn’ sie ja doch nicht auseinander.« Er greift nach dem einen Bett. »Welche bist du denn?«
    »Das Luiserl!« ruft diese. »Aber du darfst das nicht tun!«
    »Nein«, schreit Lotte. »Ihr dürft uns nicht halbieren!«
    »Haltet den Mund!« erklärt der Mann streng. »Eltern dürfen alles!« Damit geht er, das eine Kinderbett an einer Schnur hinter sich herziehend, auf das Pralinenhaus zu. Der Schokoladenzaun springt von selber auf. – Luise und Lotte winken einander verzweifelt zu.
    »Wir schreiben uns!« brüllt Luise.
    »Postlagernd!« schreit Lotte. »Vergißmeinnicht München Nr. 18!«
    Der Vater und Luise verschwinden im Haus. Dann verschwindet auch das Haus, als würde es weggewischt.
    Mutti umarmt Lotte und sagt traurig: »Nun sind wir beide vaterseelenallein.« Plötzlich starrt sie das Kind unsicher an.
    »Welches meiner Kinder bist du denn? Du siehst aus wie Lotte!«
    »Ich bin ja Lotte!«
    »Nein, du siehst aus wie Luise…«
    »Ich bin doch Luise!«
    Die Mutter blickt dem Kind erschrocken ins Gesicht und sagt, seltsamerweise mit Vaters Stimme: »Einmal Locken! Einmal Zöpfe! Die gleichen Nasen! Die gleichen Köpfe!«
    Lotte hat jetzt links einen Zopf, rechts Locken – wie Luise.
    Tränen rollen ihr aus den Augen. Und sie murmelt trostlos: »Nun weiß ich selber nicht mehr, wer von uns beiden ich bin! Ach, ich arme Hälfte!«

SIEBENTES KAPITEL
    Wochen sind vergangen –

Weitere Kostenlose Bücher