Das doppelte Lottchen
schüchternes Lächeln stiehlt sich in das Kindergesicht.
»Wirklich?«
Die Mutter nickt und lächelt still zurück.
Luise atmet auf, und nun schmeckt es ihr selber mit einemmal so gut wie noch nie im Leben! Trotz Hotel Imperial und Palatschinken!
»Die nächsten Tage werde ich selber kochen«, sagt die Mutter.
»Du wirst dabei schön aufpassen. Dann kannst du’s bald wieder wie vor den Ferien.«
Die Kleine nickt eifrig. »Vielleicht sogar noch besser!« meint sie etwas vorlaut.
Nach dem Essen waschen sie gemeinsam das Geschirr ab. Und Luise erzählt, wie schön es im Ferienheim war. (Allerdings, von dem Mädchen, das ihr zum Verwechseln ähnlich sieht, erzählt sie kein Sterbenswort!) Lottchen sitzt währenddem, in Luises schönstem Kleid, an die samtene Brüstung einer Rangloge der Wiener Staatsoper gepreßt und schaut mit brennenden Augen zum Orchester hinunter, wo Kapellmeister Palffy die Ouvertüre von »Hansel und Gretel« dirigiert.
Wie wundervoll Vati im Frack aussieht! Und wie die Musiker parieren, obwohl ganz alte Herren darunter sind! Wenn er mächtig mit dem Stock droht, spielen sie, so laut sie können. Und wenn er will, daß sie leiser sein sollen, dann säuseln sie wie der Abendwind.
Müssen die vor ihm Angst haben! Dabei hat er vorhin so vergnügt zur Loge heraufgewinkt!
Die Logentür geht.
Eine elegante junge Dame rauscht herein, setzt sich an die Brüstung und lächelt dem aufblickenden Kind zu.
Lotte wendet sich schüchtern ab und schaut wieder zu, wie Vati die Musiker dressiert.
Die junge Dame holt ein Opernglas hervor. Und eine Konfektschachtel. Und ein Programm. Und eine Puderdose. Zuletzt sieht die Samtbrüstung wie ein Schaufenster aus.
Als die Ouvertüre zu Ende ist, klatscht das Publikum laut Beifall.
Der Herr Kapellmeister Palffy verbeugt sich einige Male. Und dann sieht er, während er erneut den Dirigentenstab hebt, zur Loge empor.
Lotte winkt schüchtern mit der Hand. Vati lächelt noch zärtlicher als vorhin.
Da merkt Lotte, daß nicht nur sie mit der Hand winkt – sondern auch die Dame neben ihr!
Die Dame winkt Vati zu? Vati hat vielleicht ihretwegen so zärtlich gelächelt? Und gar nicht wegen seiner Tochter? Ja, und wieso hat Luise nichts von der fremden Frau erzählt? Kennt Vati sie noch nicht lange? Aber wie darf sie ihm dann so vertraulich zuwinken? Das Kind notiert im Gedächtnis: »Heute noch an Luise schreiben. Ob sie etwas weiß. Morgen vor der Schule zum Postamt. Postlagernd aufgeben: Vergißmeinnicht München 18.«
Dann hebt sich der Vorhang, und das Schicksal Hansels und Gretels fordert die gebührende Anteilnahme. Lottchens Atem geht stockend. Da unten schicken die Eltern ihre zwei Kinder in den Wald, um sie loszuwerden. Dabei haben sie die Kinder doch lieb!
Wie können sie dann so böse sein? Oder sind sie gar nicht böse? Ist nur das, was sie tun, böse? Sie sind traurig darüber. Warum machen sie es dann?
Lottchen, der halbierte und vertauschte Zwilling, gerät in wachsende Erregung. Ohne sich dessen bewußt zu werden, gilt der Widerstreit ihrer Gefühle immer weniger den beiden Kindern und Eltern dort unten auf der Bühne, immer mehr ihr selber, der Zwillingsschwester und den eigenen Eltern. Durften diese tun, was sie getan haben? Ganz gewiß ist Mutti keine böse Frau, und auch der Vater ist bestimmt nicht bös. Doch was sie taten, das war böse! Der Holzhauer und seine Frau waren so arm, daß sie kein Brot für die Kinder kaufen konnten. Aber Vati? War der so arm gewesen?
Als später Hansel und Gretel vor dem knusprigen Pfefferkuchenhaus ankommen, daran herumknabbern und vor der Hexenstimme erschrecken, beugt sich Fräulein Irene Gerlach, so heißt die elegante Dame, zu dem Kind hinüber, schiebt ihm die Konfektschachtel zu und flüstert: »Willst du auch ein bißchen knuspern?«
Lottchen zuckt zusammen, blickt auf, sieht das Frauengesicht vor sich und macht eine wild abwehrende Geste. Dabei fegt sie leider die Konfektschachtel von der Brüstung, und unten im Parkett regnet’s vorübergehend, wie aufs Stichwort, Pralinen! Köpfe wenden sich nach oben. Gedämpftes Lachen mischt sich in die Musik. Fräulein Gerlach lächelt halb verlegen, halb ärgerlich.
Das Kind wird ganz steif vor Schreck. Es ist mit einem Schlag aus dem gefährlichen Zauber der Kunst herausgerissen worden. Es befindet sich mit einem Schlag im gefährlichen Bereich der Wirklichkeit.
»Entschuldigen Sie, bitte, vielmals«, wispert Lottchen.
Die Dame lächelt verzeihend.
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