Das doppelte Lottchen
Rotenturmstraße sitzt, ist nun wieder Fräulein Irene Gerlach, der Pralinendame, aufgefallen. Und sie hat den Herrn Kapellmeister deswegen gewissermaßen zur Rede gestellt. Sehr vorsichtig natürlich, denn Künstler sind empfindlich!
»Ja, weißt«, hat er gesagt, »neulich komm’ ich doch dazu, wie das Luiserl am Klavier sitzt und stillvergnügt auf den Tasten klimpert. Und dazu singt sie ein kleines Liedchen, einfach herzig!
Wo sie doch früher nicht ans Klavier gegangen war’, und wenn man sie hingeprügelt hätt’!«
»Und?« hat Fräulein Gerlach gefragt und die Brauen bis an den Haaransatz hinaufgezogen.
»Und?« Der Herr Palffy hat verlegen gelacht. »Seitdem geb’ ich ihr Klavierstunden. Es macht ihr höllischen Spaß. Mir übrigens auch.«
Fräulein Gerlach hat sehr verächtlich geblickt. Denn sie ist eine geistig hochstehende Persönlichkeit. Dann hat sie spitz erklärt: »Ich dachte, du wärst Komponist und nicht Klavierlehrer für kleine Mädchen.«
Früher hätte das dem Künstler Ludwig Palffy niemand mitten ins Gesicht sagen dürfen! Heute hat er wie ein Schulbub gelacht und gerufen: »Aber ich hab’ ja noch nie im Leben soviel komponiert wie gerade jetzt! Und noch nie so etwas Gutes!«
»Was wird’s denn werden?«
»Eine Kinderoper«, hat er geantwortet.
In den Augen der Lehrerinnen hat sich also Luise verändert. In den Augen des Kindes haben sich Resi und Peperl verändert. In den Augen des Vaters hat sich die Rotenturmstraße verändert. So etwas von Veränderei!
Und in München hat sich natürlich auch allerhand verändert. –
Als die Mutter gemerkt hat, daß Lottchen nicht mehr so häuslich und in der Schule nicht mehr so fleißig ist, dafür aber quirliger und lustiger als früher, da ist sie in sich gegangen und hat zu sich selber also gesprochen: »Luiselotte, du hast aus einem fügsamen kleinen Wesen eine Haushälterin gemacht, aber kein Kind! Kaum war sie ein paar Wochen mit Gleichaltrigen beisammen, im Gebirge, an einem See – schon ist sie geworden, was sie immer hätte sein sollen: ein lustiges, von deinen Sorgen wenig beschwertes kleines Mädchen! Du bist viel zu egoistisch gewesen, pfui! Freu dich, daß Lottchen heiter und glücklich ist! Mag sie getrost beim Abwaschen einen Teller zerschmettern! Mag sie sogar von der Lehrerin einen Brief heimbringen: ›Lottes Aufmerksamkeit, Ordnungsliebe und Fleiß lassen neuerdings leider bedenklich zu wünschen übrig. Die Mitschülerin Anni Habersetzer hat von ihr gestern schon wieder vier heftige Ohrfeigen erhalten‹. Eine Mutter hat – und hätte sie noch so viele Sorgen – vor allem die Pflicht, ihr Kind davor zu bewahren, daß es zu früh aus dem Paradies der Kindheit vertrieben wird!«
So und ähnlich hat Frau Körner ernst zu sich selber gesprochen, und eines Tages schließlich auch zu Fräulein Linnekogel, Lottes Klassenlehrerin. »Mein Kind«, hat sie gesagt, »soll ein Kind sein, kein zu klein geratener Erwachsener! Es ist mir lieber, sie wird ein fröhlicher, leidenschaftlicher Racker, als daß sie um jeden Preis Ihre beste Schülerin bleibt!«
»Aber früher hat Lotte doch beides recht gut zu vereinbaren gewußt«, hat Fräulein Linnekogel, leicht pikiert, erklärt.
»Warum sie das jetzt nicht mehr kann, weiß ich nicht. Als berufstätige Frau weiß man überhaupt zu wenig von seinem Kind.
Irgendwie muß es mit den Sommerferien zusammenhängen. Aber eines weiß und sehe ich: Daß sie’s nicht mehr kann! Und das ist entscheidend!«
Fräulein Linnekogel hat energisch an ihrer Brille gerückt. »Mir, als der Erzieherin und Lehrerin Ihrer Tochter, sind leider andere Ziele gesetzt. Ich muß und werde versuchen, die innere Harmonie des Kindes wiederherzustellen!«
»Finden Sie wirklich, daß ein bißchen Unaufmerksamkeit in der Rechenstunde und ein paar Tintenkleckse im Schreibheft – «
»Ein gutes Beispiel, Frau Körner! Das Schreibheft! Gerade
Lottes Schrift zeigt, wie sehr das Kind die, ich möchte sagen, seelische Balance verloren hat. Aber lassen wir die Schrift beiseite!
Finden Sie es in Ordnung, daß Lotte neuerdings Mitschülerinnen prügelt?«
»Mitschülerinnen?« Frau Körner hat die Endung absichtlich sehr betont. »Meines Wissens hat sie nur die Anni Habersetzer geschlagen.«
»Nur?«
»Und diese Anni Habersetzer hat die Ohrfeigen redlich verdient! Von irgendwem muß sie sie ja schließlich kriegen!«
»Aber, Frau Körner!«
»Ein großes, gefräßiges Ding, das seine Gehässigkeit
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