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Das Dorf in der Marsch

Das Dorf in der Marsch

Titel: Das Dorf in der Marsch
Autoren: Hannes Nygaard
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seinen sonstigen Gewohnheiten hatte er nicht die Schublade herausgezogen und seine Füße darin geparkt.
    Christoph ließ dem Oberkommissar Zeit und betrachtete seinen Kollegen. Die dunklen Haare – natürlich ungewaschen – wurden von Jahr zu Jahr von immer mehr grauen Streifen durchzogen. Auf Wangen und Kinn sprießten die Bartstoppeln. Hatte Große Jäger wirklich nur dieses eine Holzfällerhemd? Oder wechselte er es regelmäßig, und in seinem Kleiderschrank lag ein ganzes Dutzend des gleichen Modells? Die Fingernägel wiesen Trauerränder auf, der Schmerbauch hing über dem Gürtel der schmuddeligen Jeans, und die Lederweste mit dem Einschussloch war inzwischen sein Markenzeichen geworden.
    Â»Hast du dir die Idee, dieses Design in Serie zu fertigen, eigentlich patentieren lassen?«, hatte Christoph Große Jäger gefragt.
    Â»Viele Leute laufen mit einer Wolfstatze auf dem Rücken oder Oberarm herum.« Große Jäger hatte den Finger durch das Einschussloch gesteckt. »Das hier! Das hat Stil! Und ist individuell.«
    Es dauerte eine Weile, bis der Oberkommissar sich beruhigt hatte. »Also«, prustete er, »ich habe eben ein Verhör durchgeführt. Das glaubst du nicht.«
    Â»Und das hat so viel Heiterkeit bei dir ausgelöst?«
    Sie wurden durch das Telefon unterbrochen. Christoph nahm den Hörer ab.
    Â»Hensson«, meldete sich eine sympathische weibliche Stimme. Vor Christophs geistigem Auge tauchte das Bild der jungen blonden Beamtin der Schutzpolizei auf, die noch nicht lange in Husum Dienst tat. »Die Leitstelle in Harrislee hat einen Anruf erhalten, dass ein Landwirt in Everschopkoog bei sich einen Finger gefunden hat. Daran steckt noch ein Ehering.«
    Â»Ein – was?«, fragte Christoph ungläubig. »Ein Unfall?«
    Â»Das ist alles sehr nebulös. Die Kollegen von der Präsenzstreife Eiderstedt sind schon unterwegs. Ich habe mit denen gesprochen. Die meinten, wir sollten die Kripo verständigen.«
    Die drei Polizeidienststellen Eiderstedts in Tönning, Garding und St. Peter-Ording bildeten gemischte Besatzungen – die Präsenzstreife –, die auf der gesamten grünen Halbinsel Akuteinsätze abdeckten.
    Â»Danke. Das ist richtig gewesen«, sagte Christoph. »Wir kümmern uns darum. Wo war das?«
    Â»In Everschopkoog 7. Der Landwirt heißt Reimers.«
    Â»Gibt es dort keine Straßennamen?«
    Â»Alle Häuser des Dorfes liegen wie aufgereiht an der Landesstraße 310. Es gibt nur diese eine Straße.«
    Danach informierte er Große Jäger.
    Â»Ein Finger?« Der Oberkommissar kratzte sich am Haaransatz. »Wenn es ein Unfall war, würde sich das Opfer gemeldet haben. Niemand verliert einen Finger und sagt ›Pech gehabt. Pflaster drauf. Fertig.‹ Wo wurde der Finger gefunden?«
    Christoph erklärte es ihm.
    Â»Ich wollte wissen, wo der Finger lag?«
    Â»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Christoph.
    Â»Dann sollten wir es uns ansehen«, beschloss der Oberkommissar. Er fragte nicht, ob Christoph ihn begleiten würde. Das war für Große Jäger eine Selbstverständlichkeit.
    Wenig später saßen sie in Christophs Volvo.
    Â»Ist der neu?«, fragte der Oberkommissar und rümpfte die Nase, als hätte er Witterung aufgenommen.
    Â»Der andere war jetzt sechs Jahre alt«, erklärte Christoph.
    Große Jäger schüttelte die Hand, als hätte er sich verbrannt. »Oh weia. Wir kennen uns jetzt neun Jahre. Wann tauschst du mich aus?«
    Christoph lachte. »Für jemanden wie dich gibt es einfach kein Nachfolgemodell.«
    Sie mussten an der Ecke der Poggenburgstraße eine Ampelphase warten, bevor sie nach links abbogen, die Eisenbahn unterquerten und gleich darauf wieder abbogen, um kurz darauf Husum zu verlassen. Als sie die abzweigende Straße »Riecke Reech«, was mit »Reiche Reihe« übersetzt werden konnte, passierten, erinnerte Große Jäger Christoph an die Todesfälle im Seniorenheim am Ende der Straße. Das Haus war als »Todeshaus am Deich« in die Geschichte eingegangen.
    Â»Warum fährst du ohne Blaulicht?«, beschwerte sich Große Jäger unterwegs.
    Â»Weil keine Gefahr im Verzug ist. Deshalb nehme ich keine Sonderrechte in Anspruch.«
    Zur Rechten drehten sich die Windenergieanlagen im Finkhaushalligkoog nur mäßig.
    Â»Heute gibt es
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