Das dunkle Lied des Todes
Morgen.
Sie senkt den Kopf und hat das Gefühl, dass ihre Augen ihr aus dem Kopf quellen.
Bromsen hält Vanessa, die sich krümmt und Wasser erbricht.
Johan packt Eva und zieht sie zum Strand.
Erst jetzt kann sie wieder sehen. Kann ihre Umgebung wieder wahrnehmen. Der Orkan zieht jetzt weiter und hat Strand und Dünen wie ein Schlachtfeld hinterlassen. Das Meer hat sich zurückgezogen, aber auf den Steinen liegen Tangdolden, Muscheln und tote Fische, die mit den Wellen hergekommen sind.
Sie stehen wie Nebelgestalten am dunstigen Strand. Triefnass, zerschlagen, erschöpft und glücklich. Unwillkürlich fängt sie an, alle zu zählen, und stellt fest, dass niemand fehlt.
Die Umarmungen wollen kein Ende nehmen.
Eva steht mitten im Gedränge und weint hilflos. Spürt Bettys Arme um ihren Körper und hört Tinekes trostloses Jammern, das in einen Freudenschrei umschlägt.
Eva küsst Johan auf die Stirn und nimmt Anders an der Hand, sieht, wie schön er ist, wenn er endlich lächelt.
Sie muss sich neben Vanessa setzen, die ihre eiskalte Wange an Evas Handrücken legt und sich zu Ende ausweint.
Erst jetzt ist die Kälte zu spüren. Sie setzt sich im Zwerchfell fest und strahlt in Lenden und Becken. Der Körper bebt und die Zähne klappern. Die Haare kleben zusammen, das Salz lässt die Lippen brennen. Die Kleider fühlen sich an wie ein Kettenhemd aus Eis. Aber sie lacht, beißt die Zähne zusammen und lacht, sodass ihr ganzer Körper vor Kälte und Müdigkeit zittert.
Über ihnen ziehen die Wolken weiter, ein Diadem aus goldenen Sternen breitet sich am dunklen Frühlingshimmel aus.
Julius wird von Bromsen gelobt und Bromsen wird von Julius gelobt, und Anders und Betty tauschen ein kleines geheimes Signal aus, das für alle Welt zu sehen ist.
Sie sitzen im Kreis und halten einander an den Händen.
Betty lehnte sich zu Eva hinüber.
»Wir sollten eine Schweigeminute einlegen«, schlägt Tineke vor.
»Ich könnte auch von den Kanonen von Navarone erzählen«, sagt Blumendorph und kriegt Ärger mit den anderen.
Eva zieht den dicken Jungen an sich und wiegt ihn sanft hin und her, staunt darüber, dass er sich das gefallen lässt, und denkt, dass es vielleicht an der Zeit war, dass jemand das mit ihm macht.
Gustav ist aufgestanden. Seine langen dünnen Haare hängen ihm wie Tang in die Stirn, seine Augen sind rot und seine Wangen grau vor Sand, aber er hatte immer schon einen wunderbaren Tenor, und als er zu singen beginnt, stimmen die anderen sehr bald ein.
Eva liegt auf dem Rücken und hat die Arme ausgestreckt.
Sie lächelt und merkt, wie sie im Sternengewimmel der glockenreinen Stimmen verschwindet.
»So nimm denn meine Hände und führe mich, bis an mein selig Ende und ewiglich. Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt. Wo du wirst geh’n und stehen, da nimm mich mit.«
Nachschrift
Bei den Aufräumungsarbeiten nach dem Orkan wurden Betty Matsons Tagebuch, eine Schirmmütze, eine leere Whiskyflasche und die Überreste von drei roten Drachen gefunden.
Von den elf Schülerinnen und Schülern und von den beiden Lehrkräften fehlt jegliche Spur.
Informationen zum Buch
Eva Bergman ist Lehrerin an einer der teuersten Privatschulen in Dänemark, einer Eliteschule für musisch besonders begabte Jugendliche. Als sie mit ihrer Klasse und ihrem Kollegen auf Klassenfahrt geht, ist sie zuerst ganz begeistert von dem alten Haus am Meer. Es hat alles, was ihre Klasse braucht: Atmosphäre, Gemütlichkeit, keine Nachbarn, viel Platz und Ruhe. Doch nach und nach entpuppt sich das Anwesen als Ort des Schreckens: ständig tropfende Wasserhähne, Geräusche wie von knatternden Segeln und ein seltsames Becken mit blubberndem schwarzem Wasser im Keller – das Haus scheint sich zu bewegen wie ein altes Schiff.
Informationen zum Autor
Bjarne Reuter
, 1950 in einem Vorort von Kopenhagen geboren, ist als Autor von Kinderbüchern, psychologischen Spannungsromanen und Psychothrillern international bekannt. Er erhielt so gut wie alle dänischen Literaturpreise und zahlreiche internationale Auszeichnungen. Viele seiner Bücher wurden verfilmt.
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