Das Dunkle Muster
sie den Weg fort. Als sie den Torbogen erreichte, fand sie sich plötzlich von hellem Licht umgeben.
59
Jill hielt an. »Woher kommt das Licht?« fragte Piscator.
Sie wandte sich um und erwiderte: »Keine Ahnung. Hier scheint es gar keine Lichtquelle zu geben. Schau, ich werfe nicht einmal einen Schatten.«
Sie drehte sich wieder um und ging langsam weiter. Dann blieb sie erneut stehen.
»Was ist denn los? Du…«
Jill beugte sich vor, als lehne sie sich gegen eine unsichtbare Barriere. Sie verhielt sich, als müsse sie gegen einen starken Wind ankämpfen. Schließlich schaffte sie drei weitere Schritte vorwärts. Keuchend hielt sie inne.
»Es muß eine Art Feld sein. Es ist nichts Greifbares, aber ich komme mir vor wie eine gefangene Fliege in einem Spinnennetz!«
»Könnte es sein, daß dieses Feld irgendwie auf die Magnetverschlüsse deiner Kleidung einwirkt?« rief Piscator.
»Ich glaube nicht. Wenn es so wäre, müßte die Kraft mir die Kleider vom Leibe reißen, aber das ist nicht der Fall. Ich werde sie aber trotzdem ablegen.«
Obwohl es Jill nicht leichtfiel, sich vor fünfzig Männern auszuziehen, öffnete sie die Magnetverschlüsse. Die Lufttemperatur lag nur wenig über dem Gefrierpunkt. Fröstelnd und zähneklappernd versuchte sie erneut, sich einen Weg durch die ihr Widerstand entgegensetzende Luft zu bahnen. Aber sie kam keinen Zentimeter weiter.
Als sie sich bückte, um die Kleider wieder an sich zu nehmen, stellte sie fest, daß ihr dies ohne Schwierigkeiten gelang. Die unsichtbare Kraft wirkte lediglich horizontal auf sie ein. Jill ging zwei Schritte zurück, fühlte, wie die Kraft schwächer wurde, und zog sich wieder an.
Als sie wieder draußen war, sagte sie: »Versuch du es einmal, Piscator.«
»Glaubst du, ich könnte das, was du nicht schaffst, leichter zuwege bringen? Gut, ich werde es versuchen.«
Nackt betrat Piscator den Gang. Zu seiner Überraschung mußte er feststellen, daß ihn nichts davon abhielt, weiterzugehen. Er überwand die Stelle ohne Mühe. Erst als er in die Nähe der Kurve kam, fiel ihm ein, daß hier möglicherweise noch andere Schwierigkeiten lauern konnten.
Piscator bewegte sich vorsichtig weiter. Sein Atem ging so laut, daß Jill ihn deutlich hören konnte.
Er erreichte die Kurve und blieb dort stehen, um etwas Luft zu schnappen.
»Da hinten ist ein geöffneter Aufzug«, sagte er. »Das scheint mir der einzige Weg nach unten zu sein.«
»Kannst du ihn erreichen?« rief Jill.
Mit Bewegungen, die denen eines Schauspielers in einem Zeitlupenfilm ähnelten, ging Piscator vorwärts. Dann war er hinter der Kurve verschwunden.
Eine Minute verging. Jill folgte ihm, so weit es ging, in den Korridor hinein.
»Piscator! Piscator!«
Ihre Stimme klang seltsam verändert. Möglicherweise hatten die Korridorwände seltsame akustische Eigenschaften.
Niemand antwortete. Wenn Piscator wirklich nur um die Ecke gebogen war, mußte er sie hören!
Sie rief ein paar Mal seinen Namen, aber er antwortete nicht.
Sie ging zum Eingang zurück, um es einen anderen Mann versuchen zu lassen.
Um Zeit zu sparen, gingen die Männer in Zweiergruppen voran. Manche kamen etwas weiter als Jill, andere schafften nicht mal das. Obwohl sie sich ausnahmslos auszogen, half ihnen dies gar nichts.
Jill nahm ihr Funksprechgerät und ordnete an, daß die im Schiff zurückgebliebenen Männer das Experiment versuchen sollten. Wenn einer von zweiundfünfzig dazu in der Lage war, die Barriere zu überwinden, konnte vielleicht auch einer der einundvierzig aus der Parseval diesen Erfolg verbuchen.
Zuerst mußten allerdings alle auf dem Turmdach befindlichen Männer und Frauen auf das Schiff zurück. Nach und nach verschwanden sie wie Phantome im Nebel. Obwohl Jill viele Stunden Isolation in ihrem Leben erlebt hatte, war sie sich noch nie so einsam vorgekommen wie jetzt. Der Nebel drückte seine feuchten Hände gegen ihre Wangen und schien sie in eine Maske aus Eis zu verwandeln. Das Begräbnisfeuer für Obrenowa, Metzing und die anderen brannte allmählich herab. Und irgendwo dort hinter der Kurve mußte sich Piscator aufhalten. In welcher Lage befand er sich? Konnte er sich jetzt in keine Richtung mehr bewegen? Die Rückkehr war weder für sie noch für die anderen Männer problematisch gewesen. Warum sollte er nicht dazu in der Lage sein, aus dem Korridor herauszukommen?
Allerdings hatte sie nicht die geringste Ahnung, welche Gefahren hinter der Kurve auf ihn gelauert haben
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