Das dunkle Netz der Lügen
obwohl die verrückte Kätt schon am Freitag der Schlag getroffen hatte. Zum zweiten und zum letzten Mal.
Manch einer, der den roh zusammengezimmerten Holzsarg sah und die dicke Martha mit dreien ihrer «Wäscherinnen» und zwei Mägden dahinter, hätte sich gewundert, dass es Kätt war, die zu Grabe getragen wurde. Denn seit sie vor mehr als drei Jahren zum ersten Mal der Schlag getroffen hatte, war die alte Säuferin und Bettlerin nicht mehr auf Ruhrorts Straßen gesehen worden. Diese letzten Jahre hatte sie in einem Bett verbracht, das man in einem Verschlag hinter Marthas Haus aufgestellt hatte. Hier kümmerten sich Martha und einige der Mädchen um die Kranke.
Offiziell wuschen Marthas Mädchen die dreckige Wäsche von Ruhrort, und um diese Fassade aufrechtzuerhalten, taten manche von ihnen diese Arbeit wirklich. Aber eigentlich war der Betrieb das beste und feinste Bordell der Stadt, und dies schon seit vielen Jahren. Auch Kätt hatte einmal zu Marthas Huren gehört, bevor sie zu trinken anfing und später verrückt wurde. Martha, die ihre Geschäfte stets mit der nötigen Härtebetrieb, hatte sich erweichen lassen, Kätt, die manchmal in der Küche und beim Wischen der Gastzimmer ausgeholfen hatte, aufzunehmen. Seit einigen Jahren bereits war Kätt nicht mehr verrückt, ihr Wahn war einer stillen Melancholie gewichen, seit sie begriffen hatte, dass ihr Kind zwölf Jahre zuvor wirklich im Rhein ertrunken und tot war. Doch vom Branntwein hatte sie nicht mehr lassen können.
Als der Zug an der Einmündung der Ludwigstraße angekommen war, warteten dort der katholische Pfarrer Mancy mit einem alten Messdiener, der ein Kreuz trug, und daneben Polizeicommissar Robert Borghoff mit seiner Frau Lina. Der Pfarrer ging voran, und die Borghoffs schlossen sich an. Lina nickte Martha kurz zu, die nickte in stillem Einverständnis zurück. Beiden war es wichtig, dass Kätt ein würdiges Begräbnis bekam.
Einen Tag nach dem Tod der Bettlerin, am frühen Samstagabend, gleich nach Sonnenuntergang, war die dicke Martha zum Haus der Borghoffs in der Harmoniestraße gekommen. Das Hausmädchen Antonie hatte ihr geöffnet und sie gebeten, im Salon des Geschäftes zu warten. Die meisten Kleidermacher in der Stadt weigerten sich, für eine Hure zu schneidern. Aber Lina hatte da keine Bedenken, solange Martha sich diskret verhielt.
Als Lina in den Salon kam, fiel ihr auf, dass Martha sich nicht einmal hingesetzt hatte.
«Sie wollen sie einfach an der Friedhofsmauer verscharren …», begann sie ohne Begrüßung. In ihren Augen standen Tränen.
Lina runzelte die Stirn. «Wovon sprechen Sie? Wen wollen sie verscharren?»
«Sie haben es noch nicht gehört, Frau Borghoff? Die Kätt ist gestern Abend gestorben. Meine Magd wollte sie füttern, aber dann hat sie die Augen verdreht und war tot.»
«Nun hat die arme Seele Ruh.» Lina sagte das sehr ernst.
«Sie soll ein Armenbegräbnis bekommen. Eingenäht in einen Sack direkt in die Erde, ohne christlichen Segen …» Martha blickte auf den Boden. «Ich würde die zwei Thaler für einen Sarg und die drei Silbergroschen für den Pfarrer ja zahlen, aber in diesen Zeiten muss auch ich auf mein Geld sehen.»
«Wie wir alle, liebe Frau Bromann.» Lina war eine der wenigen in Ruhrort, die Martha mit Nachnamen ansprach.
«Zwei Silbergroschen kann ich zahlen. Sie haben doch auch immer zu Kätts Lebensunterhalt beigetragen, seit sie nicht mehr betteln konnte …»
Lina seufzte. «Auch mein Geschäft geht nicht gut, seit die Wirtschaftskrise begonnen hat. Ich muss sehen, wie ich mich und meine Angestellten durchbringe.» Sie griff in ihren Rock und zog ein kleines Geldtäschchen heraus. «Vier Silbergroschen von mir.» Sie zählte sie Martha in die Hand. «Welcher Pfarrer soll sie denn beerdigen?»
Martha zuckte die Schultern. «Kätt war wohl katholisch.»
«Ich werde meinen Mann bitten, mit Pfarrer Mancy zu sprechen, sie kennen sich gut.» Commissar Borghoff ersetzte seit einiger Zeit den verstorbenen dritten Mann in der wöchentlichen Skatrunde der beiden Ruhrorter Pfarrer.
«Und wo soll ich das übrige Geld herbekommen?», fragte Martha.
Lina überlegte kurz. «Ich schicke jemanden zu Levin Heinzmann.»
Martha sah sie völlig verblüfft an. «Heinzmann? War er etwa …»
Lina schüttelte den Kopf. «Nein, wegen ihm hat Kätt nicht angefangen zu trinken. So blauäugig zu glauben, dass der Sohn eines reichen Kohlenhändlers sie heiraten würde, war selbst sie damals
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