Das dunkle Netz der Lügen
nicht. Aber er hat sie sehr gemocht, das müssten Sie doch noch wissen.»
Martha nickte versonnen. «Das ist alles so lange her.» Sie griff Linas Hand. «Ich hoffe, dass Sie das Geld von ihm bekommen. Sie mag ja eine Hure und Säuferin gewesen sein. Aber einfach verscharrt zu werden hat sie nicht verdient.»
«Das hat niemand.» Lina drückte ihr die Hand und sah ihr fest in die Augen. Trotz der traurigen Umstände musste sie lächeln, und Martha lächelte zurück. Wenn das die braven Ruhrorter wüssten, dass sich die Inhaberin des feinsten Damensalons am Ort, noch dazu die Gattin des hiesigen Polizeichefs, mit der geschäftstüchtigsten Bordellwirtin verbündet hatte, um einer stadtbekannten Bettlerin und ehemaligen Hure ein würdiges Begräbnis zu bereiten! Sollen sie es doch wissen, dachte Lina. Mir ist das herzlich egal.
«Frau Bromann, bitte geben Sie mir Bescheid, wann die Beerdigung stattfindet. Ich möchte daran teilnehmen», hatte sie entschlossen gesagt. Und nun ging sie hinter den Huren und Bordellmägden her, die trotz aller Versuche, dezente Kleidung zu tragen, für das protestantische Ruhrort immer noch wie Paradiesvögel aussahen. Levin Heinzmann hatte das restliche Geld ohne zu zögern dazugegeben, als ihr Hausmädchen Finchen ihn in ihrem Namen darum bat.
Bald standen sie an dem ausgehobenen Grab, das die Friedhofsdiener am gestrigen Nachmittag unter Mühen aus dem gefrorenen Boden gekratzt hatten, und lauschten dem kurzen Gebet des Pfarrers und den paar Sätzen, die er über arme Sünderinnen und Sünder zu sagen hatte. Sie warfen mit einem Schippchen etwas Erde auf den Sarg, und dann war alles vorbei. Die kleine Trauergesellschaft zerstreute sich schnell. «Wir sollten noch einen Schnaps auf sie trinken, und dann gehen alle zurück an die Arbeit!», hörte sie Martha sagen, die rasch mit ihren Mädchen verschwand. Lina konnte es ihr nicht verdenken.
Polizeiinspektor Ebel stand mit dem jungen Polizeidiener Kramer an der Fähre nach Duisburg im Ruhrorter Westen. Kramer hatte vor zwei Wochen seinen Dienst begonnen, und Commissar Borghoff hatte Ebel damit betraut, ihn einzuweisen. Sie ließen sich die Papiere der Fährgäste zeigen. Um diese Zeit am Morgen waren die Handwerker und Arbeiter, die auf der anderen Seite der Ruhr wohnten und zur Arbeit im Phoenix-Stahlwerk oder einem der anderen Ruhrorter Betriebe unterwegs waren, längst an ihren Arbeitsplätzen, und die Bauern aus Neudorf, Duissern, Huckingen und Kaßlerfeld standen auf dem Markt. Mit geschultem Blick sortierte Ebel die Fahrgäste des Bootes vor: ein, zwei betuchte Geschäftsleute, drei junge Männer in schon leicht verschossenen Anzügen mit Mappen unter dem Arm, die wohl auf einem Botengang waren, zwei Hausmädchen mit adretten Hauben, die Besorgungen für ihre Herrschaften erledigten, und ein paar Damen und Herren, die vermutlich Freunde und Familie in Ruhrort besuchten.
Aber das war nur die Minderzahl. Die meisten Passagiere schienen Ebel weitaus weniger rechtschaffen. Ein paar wandernde Handwerker, die langsam zur Plage wurden, und auch einige junge Männer, die wohl auf der Suche nach Arbeit im Stahlwerk waren, der Rest der Ankömmlinge waren recht zerlumpte Gestalten, darunter eine Familie, deren hohlwangige Gesichter ihre Armut schon von weitem kündeten. Der Familienvater hatte eine Geige geschultert.
Ebel winkte die meisten der braven Bürger durch, sie waren ihm persönlich bekannt, einen der Boten fragte er nur nach seinem Dienstherrn. «Ich arbeite für Herrn Carstanjen aus Duisburg, ich bin neu», sagte der und lief hochrot an.
Ebel winkte ihn durch und wandte sich an Kramer: «Kontrollieren Sie die Papiere der Handwerker. Wenn sie keine Arbeit finden, müssen sie die Stadt binnen drei Tagen wieder verlassen. Dasselbe gilt für die Arbeiter. Sagen Sie ihnen, wennsie zum Phoenix wollen, ist es das Beste, wenn sie sich in Laar melden und nicht in Ruhrort bleiben. Ich glaube kaum, dass der Phoenix schon wieder Leute einstellt.»
Wegen der großen Krise war das Werk, das erst wenige Jahre in Betrieb war, in Schwierigkeiten geraten und hatte im letzten Jahr fast die Hälfte der Belegschaft entlassen müssen.
Mit größter Strenge besah sich Ebel nun die Papiere derjenigen, die er als Bettler, Hausierer und Gesindel zu erkennen glaubte. Er ließ sich viel Zeit damit, schärfte jedem der Ankömmlinge ein, dass die Polizei sie im Auge behalten würde. Jeden Namen trug er in ein kleines Notizbuch ein.
Schließlich war
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