Das Dunkle
Schieferdach war jetzt, nachdem sich die Mitternacht verzogen hatte, kalt, und der eisige Oklahomawind fuhr ihm in die Glieder. Er hatte zu Hause sein wollen, bevor die blaue Zeit vorüber war, und deshalb keine Jacke mitgenommen.
Mist , dachte er, als er den langen Heimweg vor sich sah. Mit äußerster Vorsicht zog er seine Gliedmaßen dichter an den Körper und blies in seine Hände.
Der Mann unter ihm hatte seine Kamera eingepackt. Den Mantel fest um sich gezogen überquerte er geduckt den Hof hinter dem Haus und zog sich schwungvoll über den Holzzaun. Seine Schritte hallten in der Gasse.
Jonathan rutschte bis zur Dachrinne und sah hinunter, während er sich wünschte, er hätte sich nicht ausgerechnet auf einem Dach versteckt. Vor einer Minute schien das die natürlichste Sache der Welt – solange man fliegen konnte.
Aber hier im Flächenland war der Abgrund hässlich.
Er ließ sich abwärtsgleiten und klammerte sich an die Dachrinne. Dann fiel er wie ein Kartoffelsack zu Boden.
Autsch! Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen rechten Knöchel. Jonathan unterdrückte einen Schrei. Der Schmerz bahnte sich seinen Weg bis in die Augen, aus denen heiße Tränen hervorquollen. Jonathan holte tief Luft und ignorierte das Gefühl. Der Mann hatte inzwischen zu viel Vorsprung.
Jonathan humpelte über den Rasen und zog sich am Zaun hoch. Er erkannte eine Gestalt am Ende der Gasse, die in der Kälte zügig voranschritt. Mit äußerster Muskelkraft schaffte es Jonathan auf die andere Seite. Es dauerte immer eine Weile, bis er sich an die normale Schwerkraft gewöhnt hatte, geistig und körperlich. Mitternacht dauerte zwar immer nur eine Stunde pro Tag, aber nur in dieser Zeit fühlte er sich vollständig. Die übrigen vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachte er gefangen auf dem Flächenland, klebte wie ein Insekt im Honig am Boden.
Als er auf der anderen Seite des Zauns auf der fest verdichteten Erde aufkam, schoss der Schmerz noch einmal durch seinen Knöchel. Er biss sich wieder auf die Lippen, um keinen Laut von sich zu geben, und duckte sich im Schatten des Zauns, bis der Mann vor ihm um eine Ecke gebogen war.
Jonathan humpelte hinter ihm her.
Wenige Momente später drang das Geräusch eines startenden Motors durch die Gasse. Jonathan suchte hastig Schutz in einer Einfahrt und entkam knapp den Scheinwerfern. Vor seinem geistigen Auge sah er einen einfachen Sprung, der ihn über das nächste Dach außer Sichtweite bringen würde, aber hier im Flächenland blieb ihm nur die Möglichkeit, sich in den Schatten eines geparkten Pick-ups zu ducken.
Der Wagen passierte langsam die ungeteerte Gasse, lose Steine und Schotter knirschten unter den Rädern. Seine Scheinwerfer blendeten. Jonathans Augen hatten sich nach der blauen Stunde so wenig wie alles andere an ihm umgestellt. Er schmeckte Blut im Mund, wo ein Schmerz im Takt mit seinem rasenden Herzschlag pochte. Spitze. Irgendwann hatte er sich die Lippe aufgebissen.
Nachdem das Auto vorüber war, humpelte Jonathan aus seinem Versteck und bückte sich hinter den Hecklichtern des Pickups, um das Nummernschild zu entziffern. Auf dem Rückzug in den Schatten murmelte er die Kombination wieder und wieder vor sich hin, wie einen der magischen Sprüche von Dess.
Das Motorengeräusch verklang, und Jonathan erlaubte sich einen Seufzer der Erleichterung. Endlich war der Kerl weg.
Vorläufig hatte er nur geschnüffelt.
Aber warum? Soweit Jonathan wusste, kannten nur Midnighter die geheime Stunde. Und zwischen den fünfen, die die blaue Zeit erlebt hatten, gab es einen unausgesprochenen Geheimhaltungspakt.
Aber dieser Mann wusste etwas. Wie groß standen die Chancen, dass es sich nur um Zufall handelte? Stellte er eine Bedrohung dar?
Jonathan bewegte sich die Gasse entlang, unter vorrangigem Einsatz seines gesunden Fußes. Auf dem Weg nach Hause würde ihm reichlich Zeit bleiben, über alles nachzudenken, wenn er sich nicht gerade bemühte, nicht zu erfrieren oder nach Clancey St. Claire Ausschau hielt. Der Sheriff hatte es auf Jonathan abgesehen, seit er ihn mit Jessica wegen Überschreitung der Sperrstunde geschnappt hatte. Außerdem war Samstagnacht, fiel Jonathan ein, kein besonders günstiger Zeitpunkt, um sich mit St. Claire anzulegen. Ihm lag nichts daran, wieder zwei Nächte hinter Gittern zu verbringen, wo er in der geheimen Stunde an die Wände glotzte und darauf wartete, dass es Montag wurde.
Jonathan sah sich nach Jessicas Haus am Ende der Straße um.
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