Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
zahllosen Wunden blutenden Vaterland.
*
Der Frühling
Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde,
Die Tage kommen blüthenreich und milde,
Der Abend blüht hinzu, und helle Tage gehen
Vom Himmel abwärts, wo die Tag’ entstehen.
Das Jahr erscheint mit seinen Zeiten
Wie eine Pracht, wo Feste sich verbreiten,
Der Menschen Thätigkeit beginnt mit neuem Ziele,
So sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele.
Mit Unterthänigkeit
Scardanelli
April 1839.
Friedrich Hölderlin
Epilog
Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket euch in die Zeit.
herrnhut
römer 12,10.1
(21. Juni 1941)
Fuldaer Nachrichtenblatt
(Fulda)
Neue Straßennamen
Die veränderten politischen Verhältnisse haben eine Änderung verschiedener Straßennamen notwendig erscheinen lassen. So ist dem «Adolf-Hitler-Platz» – früher Friedrichsmarkt – wieder der Name zurückgegeben worden, den er von den Anfängen der bürgerlichen Siedlung Fulda bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein trug. Er heißt von nun an «Unterm heilig Kreuz». Diesem Zeichen war nämlich die Fuldaer Pfarrkirche, die den Mittelpunkt des Platzes bildet, geweiht.
Harry S. Truman 1884 –1972
Washington
Nicht aller Faschismus ist mit Mussolini gestorben. Hitler existiert nicht mehr – aber die Samen seines Wahnwitzes haben in vielen fanatischen Köpfen Wurzel gefaßt. Es ist leichter, die Tyrannen zu beseitigen und die Konzentrationslager aufzuheben, als die Ideen auszurotten, aus denen sie geboren sind und ihre Kraft gezogen haben. Der Sieg auf dem Schlachtfeld war unerläßlich, aber er ist nicht alles. Um eines guten, eines dauerhaften Friedens willen müssen die gutgesinnten Völker in aller Welt ihre Entschlossenheit wahren, den bösen Geist zu zertreten, der die Welt im letzten Jahrzehnt überschattet hat.
Die Kräfte der Tyrannei und Reaktion in aller Welt werden versuchen, die Einigkeit der Vereinten Nationen zu untergraben. Bis in die letzten Tage hinein, als die Militärmacht der Achse in Europa bereits zerbrach, haben sie versucht, uns zu trennen.
Es gelang ihnen nicht – sie werden es aber wieder versuchen.
Sie versuchen es sogar jetzt. «Teilen und Herrschen», das war und bleibtihre Parole. Immer noch versuchen sie, Argwohn und Haß zwischen den Verbündeten zu säen und sie zur gegenseitigen Treulosigkeit aufzuhetzen.
Aber ich weiß, daß ich für jeden und alle hier im Hause spreche, wenn ich sage, daß die Vereinten Nationen einig bleiben werden. Keine Propaganda wird sie trennen, weder vor noch nach der Kapitulation Japans.
Der Rotarmist Leonid Woitenko *1922
bei Berlin
Der Soldat Popow war ein seltsamer Mensch. Er hatte nichts als Grillen im Kopf. So führte er ein Tagebuch in einem dicken selbstgebundenen Heft mit weichem Zeitungspapier. Es war sein Stolz. In jedem freien Augenblick hatte er mit dem Stummel eines Kopierstiftes dort was hingeschrieben. Da er den Stift ständig in den Mund zur Anfeuchtung steckte, lief er immer mit blauen Lippen umher. So war auch sein Spitzname – Iwan-Stiftbrigade. Kurz vor Berlin war sein Tagebuch spurlos verschwunden. Er hat es heftig gesucht, hohe Belohnungen dafür versprochen, hat es sogar dem Bataillonskommandeur gemeldet. Er weinte! «Alles vorbei. Über zwei Jahre habe ich jedes Dorf eingetragen, jeden Meter des zurückgelegten Weges beschrieben, von Stalingrad bis Berlin. Nun wird man mein Buch zum Zigarettendrehen verwenden. Nein, sowas ertrage ich nicht. Dann schon lieber die feindliche Kugel ...» So grämte er sich etwa eine Woche lang, und eine feindliche Kugel hat ihn dann gefunden. Eine deutsche Panzereinheit war bei Erkner durchbrochen, und unser Bataillon war schwer mitgenommen. In diesem Kampf fiel der Kriegstagebuchverfasser Popow. Am nächsten Morgen haben wir sein Heft hinter der Rückenlehne seines LKWs gefunden. Er hat es wohl selbst dorthin gesteckt und in der Hektik der Kämpfe vergessen.
ANHANG *
* Erarbeitet von Dirk Hempel und Barbara Münch-Kienast
Editorische Notiz
Die Texte, die ich für DAS ECHOLOT auswählte, wurden in den meisten Fällen nicht gekürzt. Auslassungen am Anfang oder am Ende eines in sich geschlossenen Textes habe ich in der Regel nicht angezeigt. Hingegen habe ich Streichungen innerhalb eines Textes durch [...] kenntlich gemacht. Eigenheiten in Stil, Orthographie und Zeichensetzung wurden beibehalten,
Weitere Kostenlose Bücher