Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Schritten auf unseren Tisch zu. Sein Monokel fiel herunter und baumelte an der Schnur, das Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken.
Neben ihm traten Stumpff, von Friedeburg und die deutschen Offiziere der Begleitung an den Tisch. Keitel rückte sein Monokel zurecht, setzte sich auf den Rand eines Stuhls und unterschrieb umständlich alle fünf Exemplare der Urkunde. Nach Keitel setzten Stumpff und Friedeburg ihre Unterschriften darunter.
Nach der Unterzeichnung stand Keitel auf, streifte den rechten Handschuh über und suchte wieder einen strammen Militär zu markieren. Das mißlang ihm jedoch, und still ging er an den für ihn bestimmten Tisch zurück.
Am 9. Mai um 0.43 Uhr war die Urkunde über die bedingungslose Kapitulation von allen unterzeichnet. Ich forderte die deutsche Abordnung auf, den Saal zu verlassen.
Keitel, Friedeburg und Stumpff standen auf, verneigten sich und gingen, von ihren Stabsoffizieren gefolgt, mit gesenkten Köpfen.
Ich gratulierte im Namen des sowjetischen Oberkommandos allen Anwesenden herzlich zu dem langersehnten Sieg. Ein unvorstellbarer Lärm erhob sich im Saal. Alle beglückwünschten einander und schüttelten sichdie Hände. Vielen standen Freudentränen in den Augen. Meine Kampfgefährten Sokolowski, Malinin, Telegin, Antipenko, Kolpaktschi, Kusnezow, Bogdanow, Bersarin, Bokow, Below, Gorbatow und andere traten an mich heran.
«Teure Freunde», sagte ich zu meinen Waffenbrüdern, «uns ist eine hohe Ehre zuteil geworden. Das Volk, die Partei und die Regierung haben uns das Vertrauen erwiesen, unsere heldenmütigen Sowjettruppen zum Sturm auf Berlin zu führen. Dieses Vertrauen haben die Sowjettruppen, darunter auch ihr, die ihr die um Berlin kämpfenden Truppen befehligt habt, in Ehren gerechtfertigt. Viele weilen leider nicht mehr unter uns. Wie hätten sie sich über den langersehnten Sieg gefreut, für den sie, ohne zu zaudern, ihr Leben hingegeben haben!»
Bei der Erinnerung an ihre guten Freunde und Genossen, denen es nicht beschieden war, diesen freudigen Tag zu erleben, konnten sich diese Männer, die gewohnt waren, dem Tod furchtlos ins Auge zu sehen, der Tränen nicht erwehren. Am 9. Mai 1945, 0.50 Uhr, wurde die Sitzung, in der die bedingungslose Kapitulation der faschistischen Streitkräfte entgegengenommen worden war, beendet.
Ich eröffnete das Bankett und brachte einen Trinkspruch auf den Sieg der Antihitlerkoalition über Nazideutschland aus. Dann hielten Marschall Arthur Tedder, de Lattre de Tassigny und General Spaatz Ansprachen. Auch sowjetische Generale ergriffen das Wort. Alle sprachen von dem, was ihnen in diesen schweren Jahren am Herzen gelegen hatte. Ich erinnere mich, daß viel und herzlich gesprochen und immer wieder der lebhafte Wunsch geäußert wurde, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern der antifaschistischen Koalition für immer zu festigen. Diesen Wunsch äußerten sowohl sowjetische als auch amerikanische, französische und britische Generale, und wir alle hegten damals die Hoffnung, daß er in Erfüllung ginge.
Das Festessen endete am Morgen mit Liedern und Tänzen. Dabei waren die sowjetischen Generale einfach nicht zu schlagen. Auch ich konnte schließlich nicht mehr an mich halten, fühlte mich wieder jung und gab einen russischen Volkstanz zum besten. Als wir dann auseinandergingen, manche fuhren direkt zum Flugplatz, wurde zu Ehren des Sieges überall – in und bei Berlin – aus allen Waffen geschossen. Man schoß zwar in die Luft, aber die Kugeln und die Geschoß splitter, die zur Erde fielen, machten am Morgen des 9. Mai einen Spaziergang in Berlin nicht ganz ungefährlich. Doch wie grundlegend unterschied sich diese Gefahr von der, die uns in den langen Kriegsjahren schon fast zur Gewohnheit geworden war.
Am selben Morgen wurde die unterzeichnete Urkunde über die bedingungslose Kapitulation dem Hauptquartier des Oberkommandos überbracht.
Punkt 1 der Urkunde lautet:
«1. Wir, die hier Unterzeichneten, die wir im Auftrage des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht handeln, übergeben hiermit bedingungslos dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und gleichzeitig dem Oberkommando der Roten Armee alle gegenwärtig unter deutschem Befehl stehenden Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft.»
Der Frontberichterstatter
Konstantin Simonow 1915–1979
Berlin
Tempelhof. Morgen. Noch ist kein Flugzeug gelandet. Der Flugplatz ist leer. Nur in der Mitte übt ein dicker kleiner Oberst
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