Das einzige Kind
anbot, ihm ein Geheimnis zu erzählen. Ehe er antworten konnte, hatte sie sich auch schon zu seinem Ohr vorgebeugt und eine solide Ladung Kaugummi und Spucke hineingeschleudert.
Wütend riß der Beamte sie zu Boden, worauf sie sich gleich über dem Knöchel in seinem Stiefel verbiß. Für ihre Zähne und ihren Kiefer mußte das eine um vieles größere Belastung bedeutet haben als für das Stiefelleder, vor allem, weil der Beamte voller Zorn versuchte, sie abzuschütteln. Schließlich ließ sie ihn los und lachte. Danach wurde sie auf die Beine gezerrt und in eine wartende Grüne Minna gestoßen.
»Haben Sie deutlich gesehen, daß sie den Polizisten ins Bein gebissen hat?«
Diese Frage stammte vom Staatsanwalt, einem kleinen, blutjungen Polizeirat, dessen bartlose Wangen wie rote Rosen blühten. Wilhelmsen wußte, daß dies sein erster Fall war.
»Na ja, wenn der Stiefel zum Bein gehört, dann ja«, antwortete die Hauptkommissarin und sah den Richter an.
40
Der sah aus, als könne er vor lauter Langeweile jeden Moment tot umfallen.
»Es steht doch wohl außer Frage, daß sie gebissen hat?«
Der Staatsanwalt ließ nicht locker.
»Sie hat den Kollegen ins Stiefelleder gebissen. Das Gericht muß entscheiden, ob das einen Biß ins Bein bedeutet.«
»Haben Sie gesehen, ob sie ihn angespuckt hat?«
Hanne Wilhelmsen versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Ja, sie hat ihm ein dickes Kaugummi ins Ohr gespuckt. Es sah sehr unangenehm aus.«
Der Rotwangige war zufrieden, der Verteidiger hatte auch nicht mehr viele Fragen. Wilhelmsen konnte gehen.
Die Autonome würde wohl für dreißig Tage hinter
schwedische Gardinen wandern. Gewalt gegen einen Beamten im Dienst. Nicht gut. Die Hauptkommissarin verließ das neue Osloer Gerichtsgebäude, trat auf den C. J. Hambros Plass hinaus, blieb kurz stehen und schüttelte langsam den Kopf.
»Wir machen schon komische Sachen mit unserer Zeit und unserem Geld«, murmelte sie, dann winkte sie einem vorüberfahrenden Streifenwagen, der sie mit nach
Grønlandsleiret 44 nahm, dem Osloer Polizeigebäude.
Das neue Büro war doppelt so groß wie das alte. Das hatte sie ihrer Beförderung zur Hauptkommissarin zu verdanken. Sie hatte diesen Rang seit einem halben Jahr inne, wußte aber noch immer nicht, ob sie sich damit wohl fühlte. Verwaltungsarbeit machte nun einmal keinen Spaß. Andererseits war es auch eine Herausforderung, andere bei dem anleiten zu können, womit sie sich am besten auskannte: bei Ermittlungsarbeiten. Sie selbst beteiligte sich aktiver daran als die meisten anderen Hauptkommissare, und sie wußte, daß das kommentiert wurde.
Und zwar nicht nur positiv. Überhaupt kam ihr immer deutlicher 41
zu Bewußtsein, daß ein jahrelanges Dasein als allseits anerkannte Heldin, die von Kritik und Konflikten glücklich verschont blieb, nun zu Ende war. Wenn sie früher konstruktiv und unverbindlich Rationalisierungsmaßnahmen hatte vorschlagen können, die andere durchführen und verantworten mußten, so hatte sie nun Macht und Pflicht, diese selbst in die Wege zu leiten. Als einfache Ermittlerin hatte sie sich aus allen persönlichen Konflikten und Intrigen herausgehalten. Sie hatte ihre Arbeit erledigt, und zwar ganz hervorragend, dann war sie, gefolgt von bewundernden Blicken, nach Hause gegangen. Jetzt steckte sie mitten im Trubel, konnte nicht fliehen und mußte oft eingreifen, entscheiden und über andere verfugen. Vielleicht war ihr das im Innersten zuwider. Bisher hatte sie viel mehr Energie dafür aufgewandt, zwischen sich und anderen Trennwände zu errichten, Wände, hinter die sie sich zurückziehen können mußte. Jederzeit.
Hanne Wilhelmsen wußte wirklich nicht, ob sie sich wohl fühlte.
»Hanne, mein Täubchen, mein Herzensvögelchen!«
Ein braungebrannter Gigant füllte die Türöffnung aus. Er trug verwaschene Jeans ohne Gürtel; an einer Gürtelschlaufe war eine dicke Goldkette befestigt, die zur Uhrentasche an der rechten Hüfte führte. Sein T-Shirt war knallrot und quer über die breite Brust in Schwarz mit dem Befehl »FUCK OFF!«
bedruckt. An den Füßen trug er schwarze Stiefel mit echten, riesigen Sporen. Blonde Haarstoppeln von einem halben Zentimeter Länge bedeckten seinen Schädel. Sein Schnurrbart war viel länger und außerdem kupferrot.
»Billy T.! Du hast dir die Haare wachsen lassen!«
Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen sprang auf und wurde sofort zum Objekt für die innige Zuneigung dieses gewaltigen Besuchers. Er hob sie hoch
Weitere Kostenlose Bücher