Das einzige Kind
löste.
»Das Fenster war von innen geschlossen«, teilte sie mit.
»Das hat jedenfalls heute morgen die Polizei gesagt. Die Riegel waren geschlossen.«
Billy T. rüttelte an einem soliden Spiralhaken, der neben der Fensterbank in die Wand geschraubt war.
»Für eine Rettungsleine?«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern beugte sich hinaus und schaute nach unten. Auf dem Boden unter dem Fenster lag eine dünne alte Schneeschicht. Ohne Spuren. Er ließ seinen Blick an der Mauer entlanglaufen und registrierte unter den übrigen vier großen Fenstern des ersten Stocks ein wildes Getrampel. Der Schnee war fast verschwunden und Dutzende von Fußspuren verliefen kreuz und quer. Er zog den Kopf zurück und rieb sich das Ohrläppchen.
»Wohin führt die Tür da?« fragte er dann und zeigte auf eine schmale Tür in der Längswand.
»Zum Personalschlafzimmer. Manchmal nutzen wir es auch als Büroraum. Ich habe dort telefoniert, als Sie gekommen sind.«
»Und hier wohnen acht Kinder?«
»Ja, eigentlich haben wir Platz für neun, aber im Moment steht ein Bett leer.«
»Und alle Schlafzimmer liegen auf dieser Etage?«
Sie nickte.
»Weiter hinten im Flur. Auf beiden Seiten. Ich kann sie hinführen.«
»Ja, gleich«, sagte Hanne Wilhelmsen. »Haben Sie schon festgestellt, ob irgendwas gestohlen worden ist?«
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»Nein, bisher nicht. Wir wissen natürlich nicht, was sie vielleicht in ihren Schubladen aufbewahrt hat, aber … die Schubladen sind abgeschlossen und nicht aufgebrochen worden.«
»Wo ist der Schlüssel?«
Hanne Wilhelmsen hatte mit dem Rücken zu Maren Kalsvik gestanden, als sie diese Frage stellte, aber sie glaubte doch, im Gesicht der anderen eine leichte Verwirrung zu bemerken, als sie sich umdrehte und sie ansah. Nur eine Spur von Verwirrung.
Und vielleicht hatte sie sich selbst die nur eingebildet.
»Der liegt dort unter dem Blumentopf«, sagte Maren Kalsvik.
»Im Bücherregal da hinten.«
»Ach was«, sagte Billy T. und hob den Übertopf hoch.
Kein Schlüssel.
Marek Kalsvik wirkte ehrlich verblüfft.
»Sonst liegt der immer da. Vielleicht hat die Polizei ihn mitgenommen?!«
»Vielleicht.«
Hanne und Billy T. tauschten einen Blick, und Hanne machte sich auf einem Spiralblock ein paar Notizen, dann steckte sie ihn wieder in die Tasche und bat, in die Schlafzimmer geführt zu werden.
Olav und Raymond teilten sich ein Zimmer. Wie auch Glenn und Kenneth, während Anita und Jeanette das hinterste Zimmer auf dem Flur bewohnten. Ihnen gegenüber wohnten die Zwillinge, zwei Zimmer standen leer.
»Warum müssen sie sich die Zimmer teilen, wenn ihr doch leerstehende Räume habt?«
»Aus sozialen Gründen. Kenneth hat Angst vor dem
Alleinsein. Die Zwillinge wollen zusammen wohnen. Olav …«
Sie verstummte und fuhr sich wie schon so oft durch die Haare.
»Olav ist der, der verschwunden ist. Agnes dachte …«
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Jetzt kämpfte sie offenbar mit den Tränen. Sie holte zweimal schluchzend Luft und riß sich mit Mühe zusammen.
»Agnes meinte, Raymond könnte einen guten Einfluß auf Olav ausüben. Er ist zäh und groß und kann mit den Jüngeren eigentlich ziemlich gut umgehen. Obwohl er sich zuerst gegen den neuen Mitbewohner gewehrt hat. Rein soziale und pädagogische Gründe also, wenn Sie so wollen. Die leeren Zimmer nutzen wir zum Aufgabenmachen und so.«
»Und von dem verschwundenen Jungen haben Sie noch keine Nachrichten?«
»Nein. Wir machen uns schreckliche Sorgen. Er ist nicht nach Hause gegangen, aber das ist ja auch kein Wunder. Unseres Wissens hat er kein Geld, und zu Fuß ist es sehr weit.«
Billy T. lief im Flur hin und her und zählte leise und murmelnd die Meter. Als er wieder im Büro der Heimleiterin stand, mußte er die Stimme heben, um sich den anderen verständlich zu machen.
»Dieses Fenster hier, das steht doch sonst sicher nicht offen?«
Am Fensterrahmen zeigte der zartlila Staub, daß die Technik hier nach Fingerabdrücken gesucht hatte.
»Nein«, rief Maren. »Um diese Jahreszeit ist es immer geschlossen. Aber wir hatten gestern Brandübung. Die Kinder sind eine Stunde lang an Leinen und Leitern herumgeklettert.«
Das konnte Billy T. sehen. Das Fenster klemmte und ließ sich nur mit Mühe öffnen, aber es gelang ihm schließlich. Unter sich sah er das gleiche Durcheinander von Fußspuren, wie er es schon von der anderen Seite her kannte. Die Feuerleiter ließ sich zusammenschieben und war dann vom Boden her nicht zu erreichen. Sie war breit und stabil, mit
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