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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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schaute zu Olavs Bett hinüber und erstarrte. Das Bett war leer. Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte zwar den Fernseher laufen gehabt, aber er hätte doch etwas gehört, wenn der Junge das Haus verlassen hätte. Die Tür zum
    Aufenthaltsraum hatte offen gestanden. Oder nicht? Und dann wurde ihm glühend heiß.
    Es waren schon ein paarmal Kinder durchgebrannt. Sie waren einfach nicht aus der Schule zurückgekommen oder von einem Ausflug in die Stadt. Das hier aber war seine Schuld. Es war mitten in der Nacht. Und Olav war erst zwölf.
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    Das Fenster war offen. Die Rettungsleine war am Haken unter der Fensterbank befestigt und hing nach draußen. Eirik riß das Fenster ganz auf und starrte auf den Boden fünf Meter unter ihm. Aber der Junge hatte sich doch nicht einmal in die Nähe der Rettungsleinen getraut!
    Ohne daran zu denken, daß er die schlafenden Kinder wecken könnte, stürzte er aus dem Zimmer, vorbei am
    Personalschlafzimmer, und rief, als ihn noch zwei Meter vom Zimmer der Heimleiterin ganz hinten rechts von der Treppe trennten: »Agnes! Agnes! Olav ist weg!«
    Er rannte in ihr Büro. Und dort blieb er wie gelähmt stehen.
    Hinter dem für dreihundert Kronen auf dem Flohmarkt gekauften Mahagonischreibtisch mit dem Fleißigen Lieschen, dem Telefon, der billigen Plastikschreibunterlage und der roten Tasse mit vier Kugelschreibern und einem Bleistift saß Agnes Vestavik. Ganz ruhig. Sie starrte mit erstauntem Blick und halboffenem Mund durch ihn hindurch, und ein kleiner, geronnener Bach aus Blut klebte unter ihrem einen Mundwinkel.
    Das Blut floß nicht mehr.
    Nachdem er sie eine halbe Minute lang angestarrt hatte, ging Eirik langsam und unsicher um den Schreibtisch herum, wie um die Tote zu ehren. Sie war so tot, wie ein Mensch es überhaupt nur sein kann. Aus ihrem Rücken ragte ein dreizehn Zentimeter langer Messergriff. Ungefähr auf der Höhe des Herzens.
    Eirik schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
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    »Das versichere ich auf Ehre und Gewissen.«
    Sie ließ die rechte Hand sinken. Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen fand nur weniges schrecklicher, als vor Gericht aussagen zu müssen. Zwar brauchten Polizeiangestellte – anders als andere Zeugen – zumeist nicht lange zu warten; der Staatsanwalt sagte ihnen eine halbe Stunde vorher Bescheid.
    Aber trotzdem geschah immer irgend etwas, das den Betrieb aufhielt. Allein schon die richtigen Unterlagen herauszusuchen war zeitraubend genug. Viel leichter wäre es natürlich gewesen, wenn man zwei Tage im voraus vom Staatsanwalt eine Kopie der Akten bekommen hätte, aber Hanne Wilhelmsen und ihre fünfzehnhundert Kollegen bei der Osloer Polizei wußten, daß sich das nur in einen von zehn Fällen ermöglichen ließ. Die Polizeijuristen versprachen und beteuerten, aber die Papiere wurden nie geliefert, und am Ende mußten sie sich vor jeder Verhandlung durch mehr oder weniger handgebastelte Archive hindurchwühlen.
    In diesem Fall ging es um eine Bagatelle. Die Juristen in ihren Roben saßen mit düsteren Mienen da und nutzten ihren Arbeitstag, um festzustellen, ob eine Einundzwanzigjährige während einer Demonstration einen Polizisten ins Bein gebissen und ihm ins Ohr gespuckt hatte.
    Die Frau kaute auf einem Kaugummi herum, zupfte an ihren lila gefärbten Haarsträhnen und bedachte die
    Hauptkommissarin, als diese in voller Uniform den Zeugenstand betrat, mit einem vernichtenden Blick. Hanne Wilhelmsen konnte es nicht hören, von den Lippenbewegungen her jedoch hätte sie schwören können, daß die Angeklagte das Wort
    »Klassenbullerei« formte, ehe sie sich mit demonstrativem 39
    Seufzen zurücklehnte und die Decke anstarrte. Ihr Anwalt machte keine Anstalten, sie zur Ordnung zu rufen.
    Die Vernehmung war schnell erledigt. Hanne Wilhelmsen hatte wirklich alles gesehen. Sie war nicht im Dienst gewesen: zufällig war sie über den Stortorg gegangen, wo eine kleine Gruppe von Menschen, die mehr oder weniger präzise als Autonome bezeichnet wurden, wütend die Kneipe, vor der sie standen, für ein Nazinest erklärte. Das stimmte durchaus. Die Polizei wußte längst, daß rechtsextreme Gruppen dort ihr Stammlokal gefunden hatten. Als Hanne Wilhelmsen
    vorbeikam, wurde die Frau mit den lila Haaren gerade, ohne besonderen Widerstand zu leisten, von zwei Beamten aus dem Gewühl gezogen und mit Handschellen gefesselt.
    Hauptkommissarin Wilhelmsen blieb stehen. Sie war nur drei oder vier Meter entfernt, als die Autonome dem einen Beamten

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