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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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vergeblich, den Schmerz wegzureiben. Es war nach einer milden Periode wieder kalt geworden, die Kieselsteine auf dem Gartenweg knirschten trocken und gefroren unter seinen spitzen Stiefeln. Hanne Wilhelmsen war mitgekommen. Billy T.
    machte so lange Schritte, daß sie laufen mußte, um nicht zurückzufallen.
    »Ich sollte Gefahrenzulage für diese Karre da beantragen«, sagte Billy T. vergrätzt. »Blute ich?«
    Er bückte sich und hielt seiner Kollegin den Kopf hin. Unter den Haarstoppeln war die Kopfhaut zu sehen, mit Narben und Kerben von früheren Kollisionen. Er blutete nicht.
    »Waschlappen«, sagte Hanne Wilhelmsen, pustete auf seinen Kopf und öffnete eine Haustür, in der in Augenhöhe ein blaues, dreigeteiltes Fenster in Halbmondform saß. Ein kleiner geblümter Vorhang versperrte die Sicht.
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    Sie betraten einen Windfang mit Garderobenhaken an der einen Wand und einem dreistöckigen hölzernen Schuhregal vor der anderen. Schuhe in allen Größen zwischen 32 und 44 lagen dort in glücklichem Chaos wild durcheinander. Während Hanne Wilhelmsen noch überlegte, ob sie ihre Schuhe ausziehen sollte, riß Billy T. schon die nächste Tür auf, und sie folgte ihm, die Schuhe noch an den Füßen. Zu ihrer Rechten führte eine Treppe in den ersten Stock, vor ihnen lag eine Art Aufenthaltsraum. Es war leer und still.
    »Gemütlich, gemütlich«, murmelte Billy T. und bückte sich, um einem Mobile mit bunten Hexen aus Pappe, Kreppapier und Birkenzweigen auszuweichen. »So hätte ich mir das nicht gerade vorgestellt.«
    »Hättest du dir eher etwas wie in einem Buch von Dickens vorgestellt? Oder was sonst?« fragte Hanne Wilhelmsen, dann blieb sie stehen und horchte. »Hier ist es wirklich unglaublich still.«
    Wie zur Antwort kam eine Frau die Treppe heruntergelaufen.
    Sie mußte so um die Dreißig sein und hatte einen langen blonden Zopf. Sie trug einen handgewebten Kittel, der so alt aussah, wie er sicher auch war, und Jeans mit Schlag. Entweder waren die wieder total in, oder sie waren Erbstücke aus den siebziger Jahren.
    »Tut mir leid«, sagte die Frau atemlos. »Ich mußte noch telefonieren. Maren Kalsvik.«
    Ihr Händedruck war fest, ihre Augen aber waren rot und verquollen. Sie war nicht geschminkt, und trotzdem waren ihre Wimpern dunkel und außergewöhnlich lang. Sicher hatte sie sich die Haare bleichen lassen, wenn die auch nicht danach aussahen.
    »Wir haben alle Kinder weggebracht. Nur für heute. Die Polizei meinte …« Ein wenig verwirrt brach sie ab. »Also, die, die heute nacht und heute früh hier waren, Ihre Kollegen … die 46
    haben das gesagt. Daß die Kinder nicht hier sein dürften, solange die Stelle noch untersucht wird. Der Tatort, meine ich.«
    Sie fuhr sich mit einer schmalen Hand mit kurzgeschnittenen Nägeln durch den Schopf und sah nun noch erschöpfter aus.
    »Den wollen Sie doch sicher auch sehen.«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging wieder die Treppe hoch. Hanne und Billy T. folgten ihr. Der Flur, den sie oben erreichten, hatte an jedem Ende, offenbar an den Stirnwänden des Hauses, ein Fenster. Der Flur selbst war etwa zwei Meter breit, und zu beiden Seiten gingen Türen ab.
    Sie wandten sich nach rechts und wollten offenbar in das hinten rechts gelegene Zimmer. Maren Kalsvik blieb in der Türöffnung stehen und wich zurück. In ihren Wimpern glitzerten Tränen.
    »Wir dürfen da nicht rein.«
    Das galt jedoch nicht für Hanne Wilhelmsen. Sie kroch unter dem rot-weißen Plastikriemen mit dem Verbotsschild hindurch.
    Billy T. drückte den Riemen nach unten und stieg hinüber.
    »Da saß sie«, sagte Hanne und nickte zu einem mit rotem Wollstoff bezogenen Schreibtischsessel hinüber, während sie in einem Ordner blätterte, den sie aus ihrer großen Schultertasche gezogen hatte. »Mit dem Rücken zum Fenster. Und dem Gesicht zur Tür.«
    Einen Moment lang starrte sie den Schreibtisch an, während Billy T. zum Fenster ging.
    »Komisch, einen Schreibtisch so aufzustellen«, sagte Hanne dann zu Maren Kalsvik, die noch immer in respektvoller Entfernung vor der Tür stand. »Schreibtische stehen doch sonst immer vor einer Wand.«
    »Auf diese Weise wollte sie alle willkommen heißen«, sagte Maren. »Sie hätte der Tür nie den Rücken zugekehrt.«
    Billy T. machte das Fenster auf. Ein frischer, kalter Wind wehte herein. Maren Kalsvik näherte sich dem Plastikriemen, 47
    fuhr jedoch zurück, als sie sah, daß er sich an einer Seite aus seiner Befestigung

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