Das elfte Gebot
gekümmert.“
Boyd wollte sich erheben, aber der Bischof bedeutete ihm kichernd, Platz zu behalten.
„Na ja, den alten Stil lesen und die Maßeinheiten umrechnen, das kann ich schon“, erzählte Boyd ihm. „Was jedoch meine Aussprache angeht, da bin ich mir nicht so sicher.“
„Wer ist das schon?“ fragte der Bischof. „Prima. John, ich lasse dann weiteres von mir hören.“
Boyd entspannte sich, und seine bestürzte Erregung kehrte teilweise zurück. Er hätte es längst, auch ohne Gordinis erklärende Anspielung, wissen müssen! Die langen Krankheitsjahre, bis er ihnen allmählich entwuchs … Der offensichtliche Wahnsinn seines Vaters, als Boyd fünf gewesen war – ein Wahnsinn, der zum Tod beider Elternteile geführt hatte. Jetzt erinnerte er sich daran, wie seine Großmutter einmal davon gemurmelt hatte, wie sie als Ärztin und Medizinhistorikerin sich in ihrer zweiten Ehe überhaupt noch ein Kind hatte anschaffen können! Vergifteter Wurzelstock! Noch gesund genug, um ihn am Leben zu lassen und ihm sogar – wie bei seinen Großeltern – im späten Alter die Heirat zu gestatten, falls er inzwischen brillante Forschungen geleistet hatte. Aber nicht mehr gut genug, ihn weiter zu erhalten, als offen zutage trat, daß – wie in seinem Fall – nicht die gleichen Leistungen zu erwarten waren! Er war nichts weiter als genetischer Müll, dessen man sich entledigt hatte.
Die Tür öffnete sich erneut, und O’Neill platzte freudestrahlend herein. „Wer sagt es denn, Gottes Wille überrascht doch immer wieder!“ sprudelte er hervor. „Aber meine Leute haben auch gute Arbeit geleistet. Hier haben Sie alles – Arbeitserlaubnis, Wohnungszuweisung, Gehalts- und Personalnummer. Sie lautet MX 491, falls Sie sie wissen wollen. Eintätowieren lassen können wir sie später. Und hier die Adresse des Betriebs und die Wohnungsadresse! Na, was sagen Sie nun? Wenn da nicht Gottes Wille gewaltet hat: Arbeit und Wohnung gleichzeitig zu bekommen … Sie können Jem – ich brauche ihn vor sechs nicht mehr – losschicken.“
Gordini sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. Dann zuckte er die Achseln und lächelte unbestimmt. „Ich werde selbst mit ihm losgehen. Meine Verabredung ist ohnehin geplatzt – egal.“
Die momentane Überraschung auf dem Gesicht des Bischofs wandelte sich sofort in ein sanftes Strahlen. „Nun, Boyd Jensen, zu solch einem Paten kann man Sie nur beglückwünschen. Jem brauche ich aber wirklich bis um sechs zurück, John, ja?“
Gordini sammelte alle Papiere zusammen und rief nach Bruder Mark. Während der Bischof ging, kam der Mönch mit einem Bündel Kleider herein, das er mit in Boyds Koffer packte. Als O’Neills Gestalt verschwunden war, schüttelte Boyd verwundert den Kopf.
„Ich dachte immer, ein Bischof stünde über einem Priester“, bemerkte er, weil es nicht danach ausgesehen hatte. Er schien seine gesamten Vorstellungen überprüfen zu müssen.
Gordini brach in Lachen aus, und selbst Bruder Marks strenge Miene verzog sich zu einem Lächeln. „So ist es auch, Boyd – er hat sogar eine ziemliche Anzahl von Priestern unter sich. Wie er aber selbst zu sagen beliebt, geht Gottes Wille manchmal seltsame Wege. Nun wollen wir aber aufbrechen.“
Wenige Minuten später fuhren sie im Dreirad über die Kathedralenallee, bogen in einen anderen Stadtteil ab und schlängelten sich erneut durch einen Irrgarten von kleinen, schmutzigen Straßen hindurch. Es schien, als ob die Kathedrale gleichsam magisch Slums anzog. Als sie jedoch einen guten Teil Wegstrecke zurückgelegt hatten, erfuhr der Grad der Schäbigkeit der Umgebung eine Aufbesserung. Boyd fand sogar, daß er zeitweise nicht einmal mehr den Gestank wahrnahm, obwohl das vermutlich nur bedeuten mochte, daß sein Geruchssinn in zunehmendem Maß betäubt wurde.
Sie mußten ihre Fahrt nur einmal an einer großen Kreuzung unterbrechen. Die vor ihnen verlaufende breite, gerade Straße schien alle anderen schräg zu schneiden. Eigenartigerweise gab es hier kaum Verkehr und Gedränge. Einen Augenblick später sah Boyd, warum. In Sicht kam ein riesiger Lastentraktor, der ein Dutzend Anhänger hinter sich herzog, jeder in der Größe und Form eines Güterwaggons. Er glaubte sich zu erinnern, von diesen Waggons gelesen zu haben. Oben auf den Waggons thronten mit Gewehren bewaffnete Wachen, und auf dem letzten saß eine ganze Mannschaft. Diesem Zug folgten zwei weitere, bevor eine breite Lücke entstand, die dem Dreirad Gelegenheit zum
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