Das Elixier der Unsterblichkeit
sagte, er habe sich schon früh in seinem Leben gefragt, ob er wirklich der Sohn seiner Eltern sei. Nicht nur, weil er klein und dunkelhaarig war, während seine Eltern stattlich und blond gewesen seien. Aber er habe sich ungeliebt gefühlt, vor allem von seinem Vater, der ihn manchmal wie einen Aussätzigen behandelt habe. Besonders in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, als der Vater Erster Sekretär an der norwegischen Botschaft in Berlin war. Er wollte nicht, dass sein Sohn zu Besuch kam, denn er sah nicht hinreichend arisch aus. Wilhelm beschrieb seinen Vater als einen strengen Mann, dünkelhaft und hochmütig aufgrund seiner sozialen Stellung. Die Mutter habe aus armen Verhältnissen gestammt, aber dennoch das Leben einer großen Dame geführt. Um den Haushalt und das einzige Kind mussten die Hausangestellten sich kümmern, damit sie den Luxus genießen konnte, weit in den Vormittag hinein zu schlafen.
Wilhelm vermisste fröhliche Gesichter um sich her und hatte manches auszustehen, denn wie er auch versuchte, seinen Eltern zu gefallen, so waren sie doch oft abweisend. Mit der Zeit fiel es ihm immer schwerer, mit ihnen zusammen zu sein, und er lächelte schadenfroh über die Misserfolge seines Vaters, besonders über seine erfolglosen Versuche, den Führer zu treffen. Als Norwegen von Nazideutschland besetzt wurde, konnte er, der Juden über die Grenze nach Schweden schmuggelte, nicht mehr daran zweifeln, dass seine deutschfreundlichen Eltern, mit ihrer Bewunderung für den Führer, nicht sein richtiger Vater und seine richtige Mutter waren. Sie trafen sich nur wenige Male während des Krieges, und stets herrschte eisige Kälte zwischen ihnen, und bei Tisch wurden feindliche Blicke gewechselt. Der Tod seines Vaters kurz vor Kriegsende war eine Erleichterung für ihn. Jetzt konnte er die Mutter nach seiner Herkunft fragen. Am 7. Mai 1945 – er lachte herzhaft, als er uns dies erzählte – hätte nicht nur Deutschland kapituliert, sondern auch seine Mutter. Letztere nach starkem Drängen seinerseits. Sie gab zu, dass er ein Adoptivkind war. Nach der Selbständigkeit Norwegens hätten sie in Budapest gelebt, wo der Vater Zweiter Botschaftssekretär gewesen sei. Viele Jahre hätten sie versucht, selbst Kinder zu bekommen, bevor sie beschlossen, einen neugeborenen Jungen zu adoptieren. Wer die biologischen Eltern des Kindes gewesen seien, hätten sie, so die Mutter, nie erfahren. Es dauerte noch weitere zwanzig Jahre, bis Wilhelm entdeckte, dass die Mutter die Unwahrheit gesagt hatte. Nach ihrem Tod habe er nämlich seine Geburtsurkunde gefunden. Aus dem vergilbten Dokument ging hervor, dass seine leibliche Mutter Marika Óvári hieß, und der Mann, den diese Frau – ohne dessen Wissen oder Einverständnis – als Kindsvater nannte, war Nathan Spinoza.
Wilhelm gewann schnell mein Vertrauen und meine Zuneigung. Für mich verkörperte er etwas Verblüffendes und Neues. Außerdem war er das Gegenteil meiner Eltern. Elegant. Weltgewandt. Lebensfroh. Wohlhabend. Und erstaunlich offen. Er machte kein Geheimnis aus seiner sexuellen Veranlagung. Es war das erste Mal, dass jemand mit mir über die körperliche Liebe zwischen Männern redete, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Er half mir auch einzusehen, warum es das Vernünftigste für uns war, in Norwegen zu bleiben, ein neues Leben zu beginnen und eine Zukunft für uns aufzubauen. Er teilte Vaters Ansicht, dass das Dasein im Osteuropa des real existierenden Sozialismus allzu unsicher geworden sei. Natürlich hatte er alles gelesen, was über dieses Thema veröffentlicht worden war, und wunderte sich bestimmt über meine bodenlose Unwissenheit, was die Welt um mich her betraf. Er erklärte, in Polen hätten die Juden wieder die Rolle des Sündenbocks bekommen und würden verfolgt. Dies könne sich leicht auf andere sozialistische Länder übertragen. Ich hatte von alldem keine Ahnung.
Ohne Wilhelm hätten wir es wahrscheinlich nie geschafft. Er half meinen Eltern bei der Beschaffung der Aufenthaltsgenehmigung und einer Wohnung und sorgte dafür, dass sie eine gesicherte Anstellung fanden. Er begleitete mich, als ich vor einem Ausschuss von Schulsachverständigen auf meine Eignung fürs Gymnasium geprüft wurde. Der stumme Junge wurde gewogen und zu leicht befunden. Ich schämte mich wie ein Hund. Da besorgte Wilhelm mir eine geeignete Arbeit.
Wilhelm war für uns in dem neuen Land ein Geschenk Gottes. Aber unsere Zeit mit ihm zusammen war nicht von
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