Das Elixier der Unsterblichkeit
Schienen balancierten. Der Anblick der kleinen Käseecke hatte die Erinnerung an das freigesetzt, was an jenem entsetzlichen Donnerstag passiert war, der seit langem in meinem Bewusstsein in einen Dämmerschlaf gesunken war.
»Sasha, du und ich sind wie Blondin, Könige der Luft. Nichts kann uns aufhalten. Lass uns gefährlich leben!«
Sollten das meine letzten Worte im Leben gewesen sein? Starb meine Stimme, als ich meinem Bruder diese Worte zurief?
In diesem Augenblick sah ich ein: Es musste einen Grund dafür geben, dass ich das Sprachvermögen verloren hatte. Eine höhere, mir unbekannte Macht lenkte mein Schicksal. Dass ich meinen Bruder in den Tod gelockt hatte, musste der Grund dafür sein, dass ich den Zorn Gottes oder anderer Mächte auf mich gezogen hatte und mir diese schreckliche Strafe auferlegt worden war. Denn wer seinen Nächsten des Lebens beraubt, ist zu ewiger Einsamkeit verdammt.
EIN NORWEGISCHER BEKANNTER
Zwei Jahre nach Sashas Tod erklärte Vater eines Abends, dass wir nach Oslo fahren würden. Es war eine mir nahezu unbegreifliche Nachricht. Wir lebten in einem Polizeistaat, und es war praktisch unmöglich, die hermetisch abgeriegelten Grenzen des Landes zu überschreiten. Ich hatte jedenfalls nie von jemandem gehört, dem ein Touristenvisum für eine Reise in den Westen bewilligt worden wäre.
Was sollten wir in Norwegen?
Vater erklärte, ein norwegischer Bekannter habe uns eingeladen, ihn zu besuchen, und würde die Reise und die Aufenthaltskosten bezahlen. Alles sei klar. Mutter wusste davon und lächelte zufrieden. Aber Großmutter und ich sahen Vater misstrauisch an. Wir hatten noch nie etwas von einem Bekannten in Norwegen gehört. Da legte Vater Pässe, Visa und Fahrscheine auf den Tisch. Das war der Beweis. Wir brauchten nur in den Zug zu steigen. Er sollte am nächsten Morgen abgehen. Großmutter war empört, nicht weil sie zu Hause bleiben musste, sondern weil sie nicht vorher informiert worden war.
Vaters Motiv zu verstehen war nicht schwer. Er wollte vermeiden, dass Großmutter unsere Pläne im ganzen Viertel herumposaunte. Es bestand die große Gefahr, dass ein neidischer Nachbar uns Knüppel zwischen die Beine werfen würde. Die geringste Andeutung dessen, dass man Ungarn für immer verlassen wolle, reichte zu jener Zeit aus, um die Polizei auf den Plan zu rufen, die dann die Reiseerlaubnis einzog und die Reise stoppte.
Wir packten in der Nacht. Vater ermahnte Mutter und mich, so wenig wie möglich mitzunehmen, damit die Polizei keinen Verdacht schöpfte. Ich verstand nicht richtig, was er meinte. Gleichzeitig merkte ich, dass er den kleinen Koffer, den ich von Großvater geerbt hatte, mitnehmen wollte.
Am nächsten Morgen nahmen wir Abschied von Großmutter. Sie war nicht traurig, dass wir abreisen wollten, nicht soweit ich sehen konnte. An Vater und Mutter gewandt sagte sie, sie verstehe, dass sie nicht länger in diesem Land leben wollten. Die Kommunisten hätten ja alles kaputtgemacht. Danach gab sie mir – was ungewöhnlich war – einen Kuss auf die Stirn. »Du musst jetzt lernen, Norwegisch zu sprechen«, sagte sie.
Ein gut gekleideter Herr holte uns auf dem Bahnhof in Oslo ab. Ich traute meinen Augen nicht. Die Ähnlichkeit war frappierend. Wäre nicht die gigantische Nase des eleganten Norwegers gewesen, hätte ich gesagt, dass Großvater aus dem Grab auferstanden sei und uns auf dem Bahnsteig erwartete. Unser Wirt war wie eine Kopie von Großvater. Er stellte sich als Wilhelm Amundsen Gange vor und sprach ausgezeichnet Deutsch. Es bestand kein Zweifel daran – das konnte sogar ich sehen –, dass er ein kultivierter Gentleman war. Er half uns mit unserem Gepäck und brachte es ordentlich im Kofferraum seines Wagens unter. Er und Vater setzten sich nach vorn und unterhielten sich lebhaft. Ich weiß nicht mehr, worüber sie redeten. Aber ich hatte das eigentümliche Gefühl, ihn schon einmal getroffen zu haben. Die Autofahrt dauerte nur ein paar Minuten. Er wohnte in einer geräumigen Wohnung ganz oben im dritten Stock eines schönen Hauses. Es lag unmittelbar hinter dem königlichen Schloss, das man von mehreren Fenstern in der geschmackvoll eingerichteten Wohnung sehen konnte. Er zeigte auf das Schloss und sagte, dort arbeite er. Er sei der Leibarzt König Olavs V.
Meine Erinnerung lässt mich im Stich. War es der erste oder der zweite Abend, an dem Wilhelm uns seine Geschichte erzählte? Es kann auch bei unserem dritten Abendessen gewesen sein, als er
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