Das Elixier der Unsterblichkeit
PROLOG
Lange wollten sich die Wörter nicht einfinden. Vor mir im Bett lag Mutter, stumm und in sich gekehrt, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet. Ihr Blick war starr auf einen Punkt an der Decke gerichtet. Sie atmete flach, bewegte sich kaum. Ich hielt ihre Hand und wartete darauf, dass sie meine drückte, doch ihre Hand blieb kalt und leblos.
Es war ein Tag im November, vor zehn Jahren, der Himmel war hoch und blau. Ein launischer Wind wehte, und eine dünne Schicht frisch gefallenen Schnees bedeckte Oslo. Die Sonne schien, aber der Wind brachte einen Hauch von Winterkälte, und auf dem Kontinent rissen die Menschen mit bloßen Händen die Mauer nieder, die Europa jahrzehntelang geteilt hatte.
Vater hatte schon ungewöhnlich früh am Vormittag angerufen und in gemessenem Tonfall erklärt, dass Mutter in schlechter Verfassung sei und ich unter den gegebenen Umständen darauf verzichten solle, sie zu besuchen. Zunächst fühlte ich mich erleichtert.
Dass es Mutter schlechtging, dass ihre Schmerzen unerträglich waren und sie im Sterben lag, hatte ich seit fast fünfzehn Jahren täglich gehört. Was Leiden anging, war Mutter nicht gerade das, was man diskret nennt. Um ihr unablässiges und mit den Jahren immer bitterer werdendes Lamentieren auszuhalten, entwickelte ich eine leichtsinnige Strategie. Ich hörte ihr einfach nicht mehr zu. Mit der Zeit wurde ich ziemlich gleichgültig und redete mir ein, dass zu Besorgnis über ihre Gesundheit kein Grund bestehe, solange sie in der Lage war zu klagen. Ich hätte wohl etwas mehr Anteilnahme aufbringen sollen.
Im gleichen Augenblick, in dem Vater eilig hinzufügte, dass es ihr zu schlecht gehe, um ans Telefon zu kommen, erkannte ich, mit einer Stärke und Klarheit, wie ich sie viele Jahre nicht erlebt hatte, dass Mutter im Begriff war, uns zu verlassen. Erst da ging mir auf, wie schlecht ich auf diesen Moment vorbereitet war und dass ich dies bis an mein Lebensende bereuen würde.
Nicht ahnend, dass Mutter in Wahrheit nur noch eine halbe Stunde der ihr bemessenen Zeit blieb, drückte ich auf den Klingelknopf der Tür meines Elternhauses. Vater empfing mich mit trauriger Miene, die das Bedeutungsgeladene und Feierliche des Augenblicks unterstrich. Ich setzte mich ans Bett und betrachtete Mutter. Ihr Gesicht war weiß, durchsichtig, das ungekämmte Haar hing in die Stirn und gab ihr ein mädchenhaftes Aussehen.
Wer liegt dort eigentlich? Sie ist mir so vertraut, so nah, und doch so fern. Während ich Mutter beobachtete, suchte ich fieberhaft nach Bildern von ihr in meiner Erinnerung. Vergeblich. Sie war nirgendwo zu finden.
Plötzlich wurde mir klar, dass ich mich geschämt hatte, weil Mutter sich von der Welt isoliert und in ihr Schlafzimmer eingeschlossen hatte, damit niemand sie stören konnte, während sie in den finstersten Gefilden der Einbildung Umgang pflegte mit ihren Dämonen. Deshalb hatte ich sie sorgfältig verstoßen und selbst die liebsten Erinnerungen an sie verdrängt. Entsetzen überkam mich angesichts meiner Ichbezogenheit, und ich wollte mit ihr reden, offen reden über Dinge, die nie ausgesprochen worden waren. Aber so sehr ich mich auch mühte, die Wörter versagten mir den Dienst.
Vater stand reglos und steif da. Dann schlich er schnell hinaus in die Küche, um in einer alltäglichen Beschäftigung vorübergehend Linderung zu finden.
Im Schlafzimmer herrschte ein einfältiges Schweigen. Beschämt und vom Ernst des Augenblicks ergriffen, wollte ich Mutter trösten. Zärtlich streichelte ich ihre Wangen, war aber unfähig, etwas zu sagen.
Stattdessen ergriff Mutter das Wort. Langsam öffnete sie den Mund und murmelte, dies sei der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen. Der 12. Dezember 1944. Dann sagte sie, immer noch kaum hörbar, etwas von einem gewissen Lipot, dem frommsten aller Jungen, die sich im Haus versteckten und den die Deutschen an diesem Tag brutal ermordet hatten. Seine Leiche lag zwei Wochen auf der Straße, bevor die Freunde es im Schutz der Dunkelheit wagten, sie zum jüdischen Friedhof zu bringen. Mutter sprach verworren und unzusammenhängend. Ich lauschte aufmerksam. Ihre Stimme wurde immer schwächer.
»Wie konnte Gott das zulassen«, seufzte sie. »Du musst der Welt davon erzählen, du musst alles erzählen.«
Ich spürte eine Verpflichtung und versprach ihr, eines Tages von dem abgesonderten kleinen Universum zu berichten, das unsere Heimstatt auf Erden war. Aber Mutter hörte nicht zu. Sie war schon aufgebrochen,
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