Das Elixier der Unsterblichkeit
Spucke langsam an meiner linken Backe hinabglitt, drohte Sasha damit, mir eine Tracht Prügel zu verpassen, weil ich auch seinen Teil des Bettes nass gemacht hatte. Auch würde er allen, die er kannte, erzählen, dass ich mich vollgepinkelt hätte. Keiner meiner Freunde würde jemals noch Lust haben, mit mir zu spielen. Ich fühlte mich schrecklich gedemütigt.
Dieser Augenblick hat sich für immer in mein Gedächtnis eingeätzt. Ich kann noch Sashas Beleidigungen in meinen Ohren hören, ich höre sie klar und deutlich, und ich sehe sein höhnisches Gesicht. Mein Bruder hat nie verstanden, welche Macht seine Worte über mich hatten. Noch Jahre später quälte mich der grauenvolle Gedanke, dass Sasha kränkend, verurteilend und herabsetzend über mich reden könnte und ich meine Freunde verlieren und als Außenseiter enden würde, für immer zur Einsamkeit verdammt.
Ich bebe noch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe.
DER MORD AN KENNEDY
Großmutter quälte Großvater ständig mit Fragen. Die gewöhnlichste war, ob er ihr überhaupt zuhöre und sich etwas mache aus dem, was sie zu sagen habe. Großvater konnte Großmutter nicht leiden. Er hatte sie in ihrer ganzen fünfundvierzig Jahre dauernden Ehe nicht leiden können, und es hatte nicht die geringste Stunde des Glücks gegeben. Für ihn waren er und seine Frau zwei lebenslänglich Gefangene, aneinandergekettet im Fegefeuer. Er grübelte viel über den kurzen Rausch der himmelstürmenden Liebe nach. Wenn er nun dieses schöne Mädchen im rot gepunkteten Kleid auf jener Bootsfahrt auf der Donau an einem warmen Sonntag im Sommer 1918 nicht getroffen hätte – wie viele triste Streitereien, wie viele traurige Augenblicke, wie viele herabsetzende Worte wären ihm erspart geblieben. Deshalb antwortete er immer, kratzbürstig wie ein alter Schrubber, dass es ihm egal sei, was sie zu sagen habe. Großmutter war jedoch nicht bereit, sich damit abzufinden. Da sie einer Familie von Dickköpfen entstammte, denen zu widersprechen sich nicht lohnte, wiederholte sie ihre Frage unaufhörlich. Ihr Geplapper ging ihm auf die Nerven. Somit war Großmutter für Großvater tagtäglich eine Quelle der Qual und Irritation.
Wo befanden Sie sich, als Kennedy ermordet wurde? Es gibt wohl kaum einen Menschen, der im November 1963 älter als zehn Jahre war und heute nicht weiß, was er gerade tat, als er die Nachricht vom Tod des amerikanischen Präsidenten hörte.
Ich selbst war im Schlafzimmer, saß auf einem Stuhl neben Großvater. Er lag im Bett, denn er hatte Schmerzen in der Brust. Wir hörten Radio. Die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Willi Boskovsky spielten
Ungarische Rhapsodien
von Franz Liszt. Plötzlich wurde die Sendung von der dramatischen Nachricht aus Dallas unterbrochen.
Für mich hatte der Mord am Präsidenten der USA keine Bedeutung, aber in Großvaters erstauntem Blick blitzte ein Funke offener Angst auf. Er fasste sich an die Brust.
»Hast du Schmerzen, Großvater?«, fragte ich. »Tut dir etwas weh?«
»Das Leben«, antwortete er, ohne zu zögern.
Einige Monate später diskutierte ich mit meinem Großonkel über die Sache. Er wies den Gedanken zurück, dass Großvater der Mord an Kennedy nahegegangen sei – sie kannten sich ja nicht.
Stattdessen hielt er mir einen inspirierten und mitreißenden Vortrag darüber, wie man aus der Lebenslinie der Hand das Schicksal eines Menschen ablesen kann, ebenso das Schicksal der Familie, denn alles ist in der Handfläche eingeschrieben, klar und deutlich. Dies sei eine ganze Wissenschaft, behauptete er, deren Bedeutung und deren Möglichkeiten, die Zukunft vorherzusagen, immer mehr zunehme.
Großvater habe also im gleichen Augenblick, in dem das Radio die Nachricht vom Mord an Kennedy brachte, in einer der Linien seiner Handfläche den Tag und die Stunde seines eigenen Todes gesehen.
»Aber nicht die Vorahnung seines herannahenden Todes hat ihn niedergeschlagen gemacht«, erklärte Fernando, »sondern das Erschrecken darüber, dass das Leben keinen Sinn hat, wenn es so ist, dass zugleich mit dem vergänglichen Staub des Körpers auch die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sterben, das Bewusstsein und die Intuition, all das, was das innerste Wesen des Menschen ausmacht.«
UTOPIEN UND FAMILIENERBE
Obwohl Großvater und das Leben sich selten einig waren, hatte er nicht die Gewohnheit, sich zu beklagen. Doch war seine Sicht des Daseins alles andere als heiter. Hinter seinen Worten tat sich zuweilen
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