Das Ende - Alten, S: Ende
versetzte.
Dr. Nelson hielt kurz inne, um zu verschnaufen, während sie sich Notizen auf dem Krankenblatt machte. Sechzehn weitere Amputierte lagen in Lauerstellung auf dieser Station. Der ersten von acht.
Jede Station hatte gleichsam ihren Pförtner, einen Kriegsveteranen, der genau wusste, wie seine Kameraden tickten. Auf Station 27 war es Master Sergeant Rocky Allen Trett. Acht Monate zuvor durch eine raketengetriebene Granate verwundet, saß der doppelt Beinamputierte aufrecht im Bett und wartete darauf, sie zu begrüßen.
»Morgen, Schmollmund, Sie sind spät dran. Hat die Kleine Ihnen zu Hause das Leben schwergemacht?«
»Wie war noch mal der Ausdruck, den Sie gern benutzen? Fordernd? Sie scheinen gute Laune zu haben.«
»Mona ist mit den Kindern vorbeigekommen.«
»Okay, sagen Sie nichts … Die Jungs heißen Dustin und Logan, Ihre Tochter heißt Molly.«
»Megan. Blaue Augen, genau wie Ihre. Großartige Kinder. Kann’s nicht abwarten, nach Hause zu kommen. Hören Sie, ich hab versprochen, nicht zu fragen …«
»Ich hab unseren Prothetiker heute Vormittag noch mal angerufen. Er hat mir versprochen, nicht später als Mitte September.«
»Mitte September.« Rocky bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Nach ein paar Augenblicken gewann er seine Fassung zurück und zeigte über den Mittelgang. »Passen Sie auf Swickle auf. Er hat sich vorhin die Augen ausgeheult. Seine Alte hat ihm zum Frühstück die Scheidungspapiere überreicht. Meint, sie kann nicht damit umgehen, einen Krüppel zum Mann zu haben.«
»Allerliebst. Rocky, was ist mit dem neuen Burschen … Shepherd?«
Rocky schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie den Prothetiker; der Junge braucht einen Seelenklempner.«
»Herzchen, wir brauchen alle einen Seelenklempner.« Mit einem Kuss auf die Stirn brachte sie sein Lächeln zurück, dann ging sie weiter zu Station 17, einem von mehreren Bereichen, die der Privatsphäre halber durch einen Vorhang abgeteilt worden waren. »Sergeant Shepherd, mein Name ist Dr. Nelson, und ich bin Ihre …«
Sie zog den Vorhang zurück.
Das Bett war leer.
Der Himmel über Manhattan schwamm in Blau. Eine stete Brise, die vom East River kam, reduzierte den Geruch nach Ruß auf ein Minimum. Ganze Reihen industrieller Klimaanlagen brummten in der Nähe, und das mechanische Ächzen ihrer rotierenden Ventilatoren ließ die Asphaltdecke des Daches vibrieren. Sieben Stockwerke darunter mischte sich der Verkehrslärm in die Serenade, und mit dem schnellen Näherrücken der Mittagspause verstärkte sich die Hupfrequenz allmählich.
Der Hubschrauberlandeplatz des VA Hospital war leer, der Rettungshubschrauber im Einsatz.
Der schlaksige Mann in der grauen Trainingshose und dem weißen T-Shirt lief barfuß die zwanzig Zentimeter breite Betonkante entlang, die den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach umgab. Lange braune Haare flatterten in der Brise, und seine Gesichtszüge und der verträumte Blick erinnerten an Jim Morrison, den verstorbenen Leadsänger der Doors. Der Soldat teilte die ruhelose Seele des Künstlers, die eingeschlossen war in einer Gruft aus Fleisch.
Er hatte ein Gefühl in der linken Hand, als hätte er den Ellenbogen tief in Lava getaucht. Die Schmerzen waren fürchterlich und trieben ihn an den Rand des Wahnsinns. Da ist kein Arm, du Arschloch. Die Schmerzen sind ein Phantom – genau wie deine Existenz.
Patrick Ryan Shepherd schloss die Augen, und der einarmige Mann lockte die Geräusche und Gerüche des Großstadtdschungels, durch das Loch in seiner Erinnerung zu strömen …
… und Bilder einer längst verloren geglaubten Vergangenheit aufzuspüren …
Die Brise ist stetig, der Himmel schwimmt in Blau. Die geballten Fäuste des Jungen halten den Stickball-Schläger fest gepackt.
Patrick ist elf Jahre alt, der Jüngste in dem Spiel. Brooklyn besteht aus ethnisch getrennten Wohnvierteln, und Bensonhurst ist fest in italienischer Hand.
Patrick ist Ire, der Kleinste und Schwächste des Wurfs.
Ein Außenseiter, der so tut, als würde er dazugehören.
Es ist Samstag. Samstage haben eine andere Atmosphäre als Sonntage. Sonntage sind trister. Sonntage sind Anzughosen
und Kirche. Klein-Patrick hasst die Kirche, aber seine Großmutter zwingt ihn hinzugehen.
Sandra Kay Shepherd ist behindert, seit sie bei der Arbeit von einer Leiter gefallen ist. Außerdem ist die Einundsechzigjährige Diabetikerin und auf Insulin angewiesen. Sandras zweiter Ehemann hat sie vor zwölf Jahren
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