Das Ende - Alten, S: Ende
Augenblick dachte Patrick, es stamme von einem Armeehubschrauber, doch der Lichtstrahl kam vom Delacorte Theater. Er erfasste eine einzelne Gestalt, die auf dem Balkon im dritten Stock des Belvedere Castle stand – eine bleiche Frau, die eine weiße Robe mit Kapuze trug.
Mit einem Knacken erwachten mehrere Lautsprecher zum Leben, die von zwei Generatoren versorgt wurden. Jubel erhob sich vom Great Lawn, als die weiß gekleidete Gestalt ein Mikrofon aus seinem Ständer löste und sich der Menge zuwandte.
»Und dann stießen die sieben Engel mit mächtigen Stößen in ihre sieben Trompeten, und ein Drittel aller Menschen auf der Erde wurde durch die gewaltige Seuche vernichtet. Doch die Menschen, die nicht starben, weigerten sich immer noch, sich von ihren bösen Taten loszusagen … Sie weigerten sich, ihre Morde, ihre Hexenkünste und ihre Diebstähle zu bereuen.«
Die Frau in Weiß schlug die Kapuze zurück und zeigte sich ihren Anhängern. Der schreckliche Anblick ließ die Menschen nach Luft schnappen, die dem Fuß des Belvedere Castle am nächsten standen. Einen Augenblick später erschien ihr Bild auf der großen Leinwand des Theaters.
Ihr verfilztes Haar war rot wie ein kandierter Apfel, und die Pest hatte das Gesicht fast völlig entfärbt. Die Nasenspitze war ein grau-purpurner Fleck, der fast dieselbe Schattierung wie die Ringe unter ihren olivgrünen Augen besaß. Scythe hatte Zähne und Zahnfleisch faulen und schwarz werden lassen, und ihr psychotischer Gesichtsausdruck ließ eher an einen weiblichen Dämon denken als an eine Erlöserin.
Virgil zog Shep näher zu sich heran. »Patrick, ich habe diese Frau schon einmal gesehen. Sie war im VA Hospital. Man hat sie dort in die Isolierstation gebracht.«
»Isolation?« Shep starrte die Gestalt an. Er dachte an die letzten Worte, die er mit Leigh Nelson gewechselt hatte, als ihn die Ärztin die Treppe zum Dach des VA Hospitals hinaufgezerrt hatte. »Eine meiner Patientinnen, eine Rothaarige, die bei uns auf der Isolierstation war, hat eine von Menschen geschaffene Seuche entfesselt …«
Mary Louise Klipot trat an den Rand des viktorianischen Balkons. Die Menge verstummte, um die Worte der Frau zu hören. »Babylon ist gefallen. Unsere einst so große Stadt ist gefallen, denn die Nationen der Welt haben sie
verführt. Babylon, die große Stadt … Jetzt ist sie die Mutter aller Prostituierten und Obszönitäten der Welt, ein Versteck für Dämonen und böse Geister, ein Nest für befleckte Bussarde, eine Höhle für schmutzige Tiere. Doch die Herrscher der Welt, die an ihren schamlosen Taten teilhatten und ihre großen Reichtümer genossen, werden es dulden müssen, dass der Rauch von ihren verkohlten Überresten aufsteigt. Die Ketzer, die versucht haben, die Stadt zu zerstören … die Ketzer, die versucht haben, Amerika zu zerstören, werden den Zorn Gottes erleiden.«
Plötzlich erhellte gelbes Licht die zweite Ebene des Castle direkt unter Marys Balkon und enthüllte drei hastig errichtete Galgen. Hunderte Menschen, die mit vorgehaltener Waffe zusammengetrieben worden waren, standen in mehreren Reihen daneben. Man hatte ihnen die Hände auf den Rücken gefesselt und die Münder mit Klebeband verschlossen. Schwule und Lesben, Moslems und Hindus, Junge und Alte, Männer, Frauen und Kinder … sie alle sollten geopfert werden … Wenigstens hatte Mary Klipots verwirrter Geist das so geplant.
»Lasst die erste Gruppe der Ketzer vortreten!«
Die ersten drei Menschen in der ersten Reihe – eine Hindu-Familie – wurden von den anderen Verdammten getrennt.
Mehrere Männer, die Roben der Erzdiözese trugen und deren Gesichter von ihren Kapuzen fast völlig verhüllt wurden, packten Manisha Patel. Die Inderin zuckte zusammen und stieß durch ihren Knebel hindurch einen Schrei aus. Ihre Knie gaben nach. Sie wand sich voller Angst hin und her, als sie sah, wie die Männer ihre Tochter Dawn ergriffen und den Kopf des Mädchens gewaltsam durch die Schlinge schoben, die am Galgen rechts von Manisha herabhing.
Zu ihrer Linken rangen vier Männer in religiöser Kleidung Manishas Mann Pankaj nieder und legten ihm ebenfalls eine Schlinge um.
Der Kristall, den Manisha an einem Kettchen um den Hals trug, sprühte Funken statischer Elektrizität, als ihr selbst die Schlinge über den Kopf gestreift wurde. Unter ihrem Kiefer wurde das Seil straff und ein kleines Stück nach oben gezogen, sodass sie auf den Zehenspitzen stehen musste, um weiteratmen zu können.
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