Das Ende - Alten, S: Ende
1,7 Millionen Bewohner – die sich alle zusammen 60 Quadratkilometer Insel teilten.
Einhunderttausend menschliche Wesen, die jeden eingefrorenen Häuserblock im Stadtgebiet belegen. Gut und böse, alt und jung; Männer, Frauen und Kinder, die jede Altersgruppe und Nationalität auf dem Planeten repräsentieren. Ein Teil der Menschheit, der über einem Abgrund schwebt, der zu groß ist, um ihn zu begreifen; die Gleichgültigkeit dieser Menschen gegenüber der Not der Welt besudelt jede Unschuld, ihr Ableugnen ist sträflich.
Keine Schneeflocke in einer Lawine fühlt sich jemals verantwortlich.
Die Pendler schoben sich langsam nach Westen über die verstopfte Queensboro Bridge – Ratten, die sich anschickten, in das Labyrinth einzudringen. Die Fahrer, deren Autos Kennzeichen aus New York, New Jersey oder Connecticut tragen, braucht man nicht weiter zu beachten. Konzentrieren wir uns stattdessen auf den weißen Honda Civic mit dem Nummernschild aus Virginia. Es war ein Mietwagen, die Fahrerin eine Wissenschaftlerin, die die Vororte stets den Versuchungen des Großstadtlebens vorgezogen hatte. Doch nun war sie hier, nachdem sie die ganze Nacht gefahren war, nur um an diesem kühlen Donnerstagmorgen just in diesem Augenblick der menschlichen Geschichte in Manhattan zu sein. Eine Jungfrau in New York, man könnte einen Fall von Rushhour-Lampenfieber erwarten. Aber das Lächeln auf Mary Louise Klipots kantigem Gesicht war heiter, und die Achtunddreißigjährige mit den rubinroten Haaren strahlte eine Ruhe aus, wie sie nur durch inneren Frieden entstand. Haselnussbraune Augen, ohne Schminke und rot gerändert von zu wenig Schlaf, blickten auf die im Stau steckenden Fahrer zu ihrer Linken. Besorgte Gesichter, die, so sagte sie sich, alle von der ständigen Angst gezeichnet waren, die von Unsicherheit herrührte.
Mary Klipot war weder ängstlich noch unsicher. Sie war an einem Ort jenseits der Sorge, jenseits des menschlichen Makels. Ihre Überzeugungen speisten sich aus dem Glauben, und ihr Glaube reichte tief, denn sie reiste entlang eines Weges, der vom Allmächtigen persönlich geebnet worden war …
… und sie reiste mit Seinem Kind.
Natürlich hatte Andrew versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ihr Verlobter hatte beharrlich behauptet, dass er der Vater ihres ungeborenen Kindes sei. Doch sein Einwand war ohne Belang, weil dahinter Andrews unverhohlene Absicht steckte, Scythe an das Militär, die Geheimdienste oder irgendeine andere verdeckt operierende Gruppe von Schurken zu verkaufen, die ihre eigenen geopolitischen Perversionen pflegten. Hielt er die Mikrobiologin für eine Idiotin? Klein-Jesus von ihm? Wann hatte dieser angebliche »Paarungsakt« denn stattgefunden? Warum konnte sie sich nicht daran erinnern?
Nachdem sie den Teufel gezwungen hatte, seine Karten aufzudecken, hatte ihr »Anverlobter« ein Märchen über Verzweiflung ausgespuckt und behauptet, dass sie damals im März, als sie in Cancún Urlaub machten, miteinander geschlafen hätten. Andrew, der sexuell frustriert war, gab zu, eine Kleinigkeit in Marys Rum-Cola gegeben und dadurch dafür gesorgt zu haben, dass die Dämme ihrer Libido brachen. Es sei eine wilde Nacht voller Leidenschaft und Begierde gewesen – dass Mary sich daran nicht erinnern konnte, hatte mehr damit zu tun, dass sie sich nicht erinnern wollte, als mit dem harmlosen chemischen Gebräu, das er an ihr ausprobiert hatte.
Die giftige Lüge war Andrew teuer zu stehen gekommen. Nachdem sie ihren Verlobten an den Mittelpfosten des alten Viehstalls gebunden hatte, goss sie Säure über seine Handgelenke und Handschellen, bis hinauf zu den Ellenbogen. Andrew hatte geschrien, bis er ohnmächtig wurde. Die dicken Innenwände des verwahrlosten Baus dämpften das Geräusch, und der nächste
Nachbar war ohnehin mehr als eine halbe Meile entfernt.
Nachdem sie ihn erneut am Mittelpfosten des Gebäudes festgebunden hatte, wartete sie geduldig, bis er aufwachte. Schließlich stupste sie ihn mit der Mündung der Schrotflinte an.
»Andrew, Liebling, mach die Augen auf. Mama hat was für dich.«
Die Druckwelle hatte Hirnmasse, Blut und Schädelsplitter über die gesamte Rückwand und die Dachsparren verspritzt. Durch den heftigen Rückstoß hatte Mary sich die rechte Schulter verstaucht, und der Ruck veranlasste Klein-Jesus, zehn Minuten ununterbrochen zu strampeln. Sie hatte sich im Futtertrog ausgeruht, bis er sich beruhigte, dann hatte sie den Stall mit Feuer gereinigt und
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