Das Ende der Welt
würden. Wir sind bei ihm zu Hause. Die Ehefrau könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen.«
»Lydia«, sagte ich. »Sie heißt Lydia. Und ja, ich bin gleich bei Ihnen.«
Ich legte auf und rief Claude an. Seit meiner Zeit in New Orleans, wo ich den Fall des grünen Papageien gelöst hatte, war Claude mein Assistent. Ich brauchte ihn nicht etwa, weil ich so viel zu tun hatte, sondern weil ein großer Teil meiner Arbeit sterbenslangweilig war. Kreditkartenabrechnungen überprüfen, Telefonate führen, zur Stadtverwaltung laufen und Grundbucheinträge lesen, Futterlieferanten für Miniaturpferde ausfindig machen. Ich hatte die Nase voll.
Claude war der letzte in einer ganzen Reihe von Assistenten, die ich im Laufe der Jahre eingestellt und entlassen hatte. Oder entlassen hätte, wenn sie mir mit ihrer Kündigung nicht zuvorgekommen wären. Claude war ein helles Köpfchen, fleißig und loyal, und sein enzyklopädisches Wissen auf dem Gebiet der mittelalterlichen Wirtschaftslehre erwies sich als nützlicher, als man zunächst meinen würde.
In Pauls Todesnacht war Claude nach dem fünften Klingeln am Telefon. Er hatte geschlafen.
»Jemand wurde ermordet«, sagte ich.
»Okay«, sagte Claude verunsichert. »So läuft das jetzt?« Normalerweise mischten wir uns erst in einen Fall ein, nachdem viele andere Leute ihr Bestes versucht hatten und gescheitert waren. Niemand zog einen Privatdetektiv zu Rate, schon gar nicht mich, bevor nicht alle rationalen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Es war wie bei Exorzisten und Feng-Shui-Beratern. Noch nie hatte ich Claude wegen eines neuen Falles mitten in der Nacht angerufen.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich wollte es dir einfach nur sagen.«
Ich erzählte ihm nicht, dass es um Paul ging. Dass ich das Mordopfer kannte.
»Soll ich irgendwohin fahren?«, fragte Claude. »Warte mal … muss ich jetzt so was sagen wie: ›Wir treffen uns dort‹ oder ›Ich bin in fünf Minuten da‹, und dann auflegen? Denn in fünf Minuten schaffe ich es nicht. Eher so in einer Stunde.«
Ich sagte nichts.
Paul war tot. Keine Wörter schienen belastbar genug, um die Tatsache zu tragen. Paul, der mir einen Origami-Schwan gefaltet hatte. Paul, der jedes burmesische Restaurant in der Bay Area kannte, der seine Sonntage damit verbrachte, auf Flohmärkten nach Lautsprechern und Röhrentestern und Ohmmetern zu suchen.
Ich dachte an den großen Flohmarkt in Alameda, wo die Röhrentester in Zukunft unbeachtet, ungekauft und einsam verstauben würden.
»Keine Verdächtigen«, sagte ich, »kein Motiv.«
»Okay«, sagte Claude. »Also, kann ich dir jetzt irgendwie helfen, oder …«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte ich.
»Claire«, sagte Claude, »ist alles in Ordnung?«
»Natürlich«, sagte ich. »Sag mal, könntest du eine neue Akte anlegen?«
»Klar«, antwortete er, »wie soll sie heißen?«
»Der Fall …«
Ich schloss die Augen und sah Bilder auf der Unterseite meiner Lider – einen flatternden Vogel, ein Feuerwerk, einen Geist. Einer religiösen Überlieferung zufolge befinden wir uns im Kali Yuga, einer Epoche, die zwischen hunderttausend und eine Million Jahre dauert, je nachdem, wen man fragt. In den anderen Yugas waren beziehungsweise werden wir attraktiver, freundlicher und größer, außerdem bringen wir einander nicht mehr um. Der Himmel ist klar und die Sonne scheint. Im Kali Yuga hingegen sind alle Tugenden der Sünde gewichen. Es gibt keine guten Bücher mehr. Jeder heiratet die falsche Person, und keiner ist zufrieden mit dem, was er hat. Die Weisen verkaufen ihr Wissen, und die
Sadhus
leben in Palästen. Der Dämon Kali liebt das Gold und die Schlachthöfe. Er liebt das Glücksspiel und zerstört mit Genuss.
In diesem Yuga bleiben wir unwissend, bis es zu spät ist. Und ausgerechnet die Menschen, die wir am meisten lieben, verschweigen uns die Wahrheit. Wir taumeln blind durch die Wirklichkeit, mit trüben Augen und tauben Ohren. Eines Tages, in einem anderen Yuga, werden wir aufwachen und erkennen, was wir getan haben, und dann werden wir einen Strom von Tränen vergießen und uns und unsere Dummheit beweinen.
»Claire?«, fragte Claude noch einmal. »Ist alles in Ordnung?«
»Natürlich«, sagte ich. »Mir geht es gut. Die Akte heißt: Der Fall des Kali Yuga.«
Als Claude zum ersten Mal mein Apartment betrat, sah er aus wie ein Mann, der in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen schönen Tag verbracht hatte. Er trug ein Hemd und einen Blouson, dazu
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