Das Ende der Welt
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San Francisco
I ch begegnete Paul an einem späten Donnerstagabend beim Konzert eines Freundes meiner Freundin Tabitha im Hotel Utah. Etwa zwanzig Zuschauer waren gekommen, um die Band des Freundes meiner Freundin zu sehen. Einer dieser zwanzig war Paul. Ich saß mit Tabitha und ihrem Freund an einem Tisch in der Ecke. Tabitha war groß und spindeldürr, ihre Haare waren orangefarben und ihre Arme und Beine von Tätowierungen bedeckt. Tabithas Freund war einer jener jungen Männer, die zu süß sind, um wahr – oder interessant – zu sein. Er war ein bisschen jünger als ich und lächelte mich an, als meinte er es ernst.
Paul warf mir von der Bar aus Blicke zu, aber wann immer ich ihn dabei ertappte, schaute er schnell woanders hin. Das Ganze wiederholte sich einige Male, zu oft, um Zufall oder Einbildung zu sein. Eigentlich passierte mir so etwas ständig. Es war nichts Besonderes, dass mir ein Mann in einer dunklen Kaschemme in San Francisco verstohlene Blicke zuwarf.
Bloß dass Paul mit seinen großen, dunklen Augen und dem flüchtigen, schüchternen, verschämten Lächeln durchaus etwas Besonderes war.
Als Tabitha und ich die Bar nach dem Konzert verließen, spürte ich seine Blicke. Ich fragte mich, warum er mich nicht angesprochen hatte. Ob er es absichtlich unterlassen hatte, damit ich ihn nicht vergaß? Bei Männern weiß man ja nie, ich zumindest nicht.
Als wir zwei Wochen später wieder ins Hotel Utah gingen, um dieselbe Band zu sehen, war Paul auch da. Ich hätte nicht zugegeben, nur seinetwegen gekommen zu sein, aber genau so war es. Paul war mit dem Gitarristen befreundet, Tabitha mit dem Schlagzeuger. Paul und ich gingen einander aus dem Weg, was mir aber zunächst nicht auffiel. Als er sich zur Band setzte, die vor Konzertbeginn in der Bar erschienen war, stand ich auf und ging zur Toilette. Sobald ich zurückkam, stand Paul auf, um sich einen Drink zu holen. Ich hatte ihn bis dahin für einen ganz netten, ganz hübschen Typen gehalten, den ich eventuell kennenlernen und mit dem ich eventuell ins Bett gehen würde.
Aber an jenem zweiten Abend spürte ich ein Grummeln im Bauch, eher Fledermäuse als Schmetterlinge, und kurz bevor ich endlich seine Hand schüttelte, überkam mich Todesangst, so als würden wir von einer schwarzen Strömung mitgerissen, der wir nicht entkommen konnten. Oder wollten.
Der berühmte Detektiv Jacques Silette hätte gesagt, dass wir Bescheid wussten. Wir wussten, was auf uns zukam, und wir beschlossen, es geschehen zu lassen. »Karma«, schrieb er, »ist nicht mit einem bereits gedruckten Text zu verwechseln. Vielmehr handelt es sich um einen Haufen Wörter, die die Autorin nach Belieben anordnen kann.«
Liebe. Mord. Ein gebrochenes Herz. Der Professor mit dem Leuchter im Salon. Der Detektiv mit dem Revolver in der Bar. Backstage der Gitarrist mit dem Plektron.
Vielleicht stimmte es, und das Leben war ein Haufen Wörter, die wir nach Belieben arrangieren durften, doch keiner schien zu wissen, wie. Ein Wortspiel ohne passende Auflösung, ein Kreuzworträtsel, bei dem uns ein Liedtext nicht mehr einfallen will. 1962 ,
I Wish We Were
___.
Endlich begegneten wir einander.
»Ich bin Paul«, sagte er und streckte mir seine kalte, rauhe Hand entgegen, die vom jahrelangen Gitarrenspiel schwielig war. Er hatte sehr dunkle Augen und lächelte schief, so als sei das ein alter Witz unter uns.
»Ich bin Claire«, sagte ich und schüttelte seine Hand.
»Bist du auch Musikerin?«, fragte er.
»Nein«, antwortete ich, »ich bin Privatdetektivin.«
»Wow«, sagte er, »das ist ja cool.«
»Ja«, sagte ich, »ich weiß.«
Wir unterhielten uns. Wir waren beide viel gereist, jahrelang, und nun tauschten wir Anekdoten aus wie alte Kriegsveteranen. Holiday Inns in Savannah, verpasste Flüge in Orlando, Streifschüsse in Detroit – letztendlich war der Unterschied zwischen Musiker und Privatdetektivin gar nicht so groß, oder? Außer dass die meisten Menschen Musiker sympathisch fanden. Paul war klug. Das Gesprächsniveau ließ sich problemlos und ohne Vorankündigung steigern. Paul trug einen braunen Anzug mit weißen Nadelstreifen, der an Kragen und Ärmeln leicht ausgefranst war, und einen dunkelbraunen, fast schwarzen Hut – kein Fedora, aber ganz ähnlich –, den er nicht aufsetzte, sondern nur in der Hand hielt. Die Männer in San Francisco wussten, wie man sich kleidet. Keine Cargoshorts, keine weißen Turnschuhe, keine Poloshirts in Pastelltönen, keine
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