Cosmopolis
1
Der Schlaf ließ ihn jetzt öfter im Stich, nicht ein- oder zweimal die Woche, sondern viermal, fünf. Was tat er, wenn das passierte? Er machte keine langen Spaziergänge in die aufziehende Abenddämmerung hinein. Kein Freund war ihm so nah, dass er ihn mit einem Anruf belästigen wollte. Was hätte er sagen sollen? Es ging um Momente des Schweigens, nicht um Worte.
Er versuchte, sich in den Schlaf zu lesen, wurde aber nur ruheloser. Er las Wissenschaftliches und Lyrik. Er mochte karge Gedichte, die minuziös ins Weiße platziert waren, ins Papier gebrannte Reihen alphabetischer Anschläge. Gedichte machten ihm bewusst, dass er atmete. Ein Gedicht legte Dinge im jeweiligen Augenblick offen, auf deren Wahrnehmung er normalerweise nicht vorbereitet war. Darin lag die Nuance jedes Gedichts, zumindest für ihn, nachts, in diesen langen Wochen, ein Atemzug nach dem anderen im rotierenden Raum ganz oben in der dreigeschossigen Maisonnette.
Eines Nachts versuchte er im Stehen zu schlafen, in seiner Meditationszelle, aber er war bei Weitem nicht geschickt genug, nicht Mönch genug. Er umging den Schlaf und steuerte die Gegenstellung an, eine mondlose Stille, wo jede Kraft durch eine andere ausbalanciert ist. Dies war eine äußerst kurze Linderung, eine kleine Pause im Aufruhr der rastlosen Identitäten.
Es gab keine Antwort. Er versuchte es mit Sedativa und Hypnotika, wurde aber abhängig davon, sie schickten ihn in engen Spiralen nach innen. Noch der blasseste Gedanke trug einen Schatten von Angst. Was tat er? Er konsultierte keinen Analytiker im hohen Ledersessel. Freud ist passé, Einstein als Nächster dran. Heute Nacht las er die spezielle Relativitätstheorie, auf Englisch und Deutsch, legte das Buch aber schließlich beiseite und lag vollkommen reglos da, versuchte den Willen für das eine Wort aufzubringen, um das Licht abzuschalten. Ringsum existierte nichts. Nur das Geräusch in seinem Kopf, der Geist in der Zeit.
Mit seinem Tod würde nicht er zu Ende gehen. Die Welt würde zu Ende gehen.
Er stand am Fenster und beobachtete den Anbruch des großen Tages. Die Aussicht reichte über Brücken und Meeresengen und Wasserarme hinweg, über Stadtteile und Zahnpastasuburbs hinaus, bis zu den Weiten von Landmasse und Himmel, die man nur als tiefe Ferne bezeichnen konnte. Er wusste nicht, was er wollte. Unten auf dem Fluss war immer noch Nacht, halb Nacht, und aschige Dunstschwaden wogten über den Schornsteinen am jenseitigen Ufer. Die Huren waren inzwischen wohl, spekulierte er, mit wackelnden Entenpopos aus ihren laternenhellen Ecken geflohen, und andere älteste Gewerbe kamen gerade in Gang, Warenlaster rollten aus den Märkten, Zeitungslaster von den Laderampen. Bestimmt durchquerten Brotlieferanten die Stadt, und vereinzelte Heimkehrer aus dem Tollhaus der Nacht kurvten Sound hämmernd über die Avenues.
Nichts Edleres als eine Flussbrücke und die aufbrüllende Sonne dahinter.
Er beobachtete hundert Möwen, die eine schwankende Schute flussabwärts verfolgten. Sie hatten große, starke Herzen. Das wusste er, unverhältnismäßig zur Körpergröße. Er hatte sich mal für die filigranen Details der Vogelanatomie interessiert und sie gemeistert. Vögel haben Röhrenknochen. Er meisterte die unwahrscheinlichsten Themen an einem halben Nachmittag.
Er wusste nicht, was er wollte. Dann wusste er es. Er wollte sich die Haare schneiden lassen.
Er blieb noch etwas stehen, beobachtete eine einzelne Möwe, die sich erhob und in einem Luftkräusel trudelte, und bewunderte den Vogel, dachte sich in ihn hinein, versuchte ihn zu ergründen, den robusten, redlichen Schlag seines gierigen Aasfresserherzens zu erfühlen.
Er trug Anzug und Krawatte. Ein Anzug milderte die Wölbung seiner überentwickelten Brust. Nachts trainierte er gern, in metallischen Rudermaschinen mit Gegengewichten, er machte stoisch immer wieder Bizepscurls und Bankdrücken, was alle Wallungen und Zwänge des Tages abbaute.
Er ging durch die Wohnung, achtundvierzig Zimmer. Das tat er, wenn er sich zaudernd und deprimiert fühlte, schlenderte am Sportschwimmbecken entlang, dem Spielsalon, dem Fitnessraum, vorbei am Haifischbecken und dem Vorführsaal. Er blieb am Barsoi-Zwinger stehen und sprach mit seinen Windhunden. Dann ging er in den Nebentrakt, wo es Währungen im Auge zu behalten und Hintergrundberichte auszuwerten galt.
Der Yen war entgegen den Erwartungen über Nacht gestiegen.
Er ging zurück nach oben in den Wohnbereich, langsam jetzt,
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