Seine Zeit zu sterben (German Edition)
1
»Für die Nacht zum 20. Jänner ist im Gebirge mit heftigen Schneefällen zu rechnen.«
»Pass doch auf!«, schrie Yvonne und griff fast ins Lenkrad. Christoph überfuhr um ein Haar einen Hund, der Wagen schlitterte beim Bremsen, drehte sich leicht. Christoph hatte alles unter Kontrolle, schwor er und schaltete einen Gang höher auf der eisglatten Fahrbahn.
»Ich will nicht in den Skikurs, Mami!«, quengelte Igor aus dem Kindersitz, schlug mit seinen Skischuhen gegen den Lederrücksitz und fing schlagartig zu heulen an. »Papi, du hast einen Hund überfahren!«, schluchzte es aus seinem Mund, dessen Winkel sich wie bei einem Smiley nach unten zogen.
»Papi hat keinen Hund überfahren!«, schrie Yvonne Christoph mehr an, als den vom Schluchzen fast atemlosen Kleinen, der weiter gegen ihre Rückenlehne trampelte. »Papi ist mit dem Kopf ganz woanders, ich weiß gar nicht, warum Papi den Wauwau nicht gesehen hat. Warum hast du den Hund nicht gesehen? Das wäre ja ein toller Urlaubsbeginn. Bravo, überfährt einen Hund, weil der Herr mal wieder weiß Gott wo oder mit …«
»Hör sofort mit dem Getrampel auf«, brüllte Christoph in den Rückspiegel und versuchte mit einer Hand das Skischuhstakkato zu stoppen, wobei er sich an einer Schnalle ein Stück Haut aufriss, die zu bluten anfing.
»Der Junge kann nichts dafür«, griff Yvonne ein, während Christoph das Bluten mit dem Mund zu stillen versuchte und sich überlegte, wie er die Flecken am Lenkrad von dem beigen Leder bekäme. »Du kommst doch zu den roten Teufeln, mein kleiner Pistenschreck. Und mittags holt dich Papi ab, wenn er es nicht vergisst und im Lift …«
»Warum ich, wir …«
»Kannst du dir nicht ein einziges Mal etwas merken? Ich hatte dir doch gesagt, dass ich Petra auf dem Sonnbühel treffe!«
Igor fing wieder zu trommeln an, überprüfte zwischen den Heulschüben, ob es klug wäre, weiterzuheulen, zog es aber vor, seinen Helm überzustreifen.
»Musst du gleich an unserem ersten Ferientag Petra treffen, können wir nicht …«
»Ach, willst du sie lieber alleine treffen?«, schnitt ihm Yvonne das Wort ab. »Fahr nicht so dicht auf! Mir wird schlecht, wenn du fährst. Kannst du nicht gleichmäßig fahren? Kannst du nicht irgendetwas ausgewogen machen? Ist das zu viel verlangt?«
Christophs Lippen sprachen synchron mit, er kannte jedes ihrer Worte, jede Wendung, die folgen würde. Er konnte diese Gespräche längst alleine führen, er brauchte sie dazu nicht mehr, es war egal, ob sie neben ihm saß oder nur in seinem Kopf neben dem Schmerz in der Schläfe. Manchmal dachte er, sie sei ein Tumor in seinem Kopf, und wenn er sie ansah, war es nichts als eine Täuschung seines Hirns, das, was es zerstörte, nach außen stülpte und ihm den Körper seiner Frau zeigte, die langen blonden Haare, die ihr über die schmalen, verhärteten Schultern fielen.
Er liebte sie immer noch, liebte sie, wie man einen Feind liebt, ohne den man nicht leben kann, bis er einen umbringt. Er hatte keinen Augenblick aufgehört, verrückt nach ihr zu sein, sie nicht einmal eine Sekunde in Gedanken betrogen, hätte sie eher erschlagen als betrogen. Auch wenn sie besessen war von der Idee, er betrüge sie, betrüge sie mit Babette, betrüge sie fortwährend und am liebsten eben mit ihren Freundinnen, die sie so ansah, als hätten sie gerade mit ihrem Mann geschlafen, als würden sie noch nach ihm riechen, wenn sie ihnen zur Begrüßung die Wange küsste. Dabei hätte Christoph mehr Grund gehabt, den Spuren auf ihren Schulterblättern nachzugehen, die sie von ihren Sportstunden heimbrachte und die er in seinem naiven Begehren überblendete, wenn sie im Bad nebeneinander standen und ihre elektrischen Zahnbürsten alles waren, was von ihrem Gleichklang geblieben war.
Christoph wollte, dass in diesem Winterurlaub alles anders würde, dass sie die Kurve kratzten und ihre Gewohnheiten sie nicht wie eine Lawine begruben. Ja, wie ein Lawinenhund suchte er ihre Liebe. Er hätte ihr am liebsten einen Piepser für Touren gekauft und zuletzt einen dieser Rucksäcke, die sich aufbliesen, wenn die Schneemassen einen den Hang hinunterjagten, bevor sie die immer wieder hin und her geschleuderten Wundkörper in ihren weißen Beton einschlossen und die letzte Luft aus den Lungen pressten. Er wollte sie keine Touren mehr gehen lassen.
»Dann bring du mich doch auf Touren«, hatte sie ihn stehen lassen. Aber dieser Urlaub würde anders werden, er spürte es.
»Yvonne, lass uns
Weitere Kostenlose Bücher