Das Engelsgrab
Rekordzeit erreicht.
Natürlich waren wir nicht auf das Gelände gefahren, sondern hatten den Rover zuvor abgestellt. Der Rest musste von uns beiden zu Fuß erledigt werden.
Wir hatten Lilian Cramer versprochen, ihren Sohn heil und gesund zurückzubringen. Ich hoffte inständig, und da dachte ich wohl für Suko mit, dass wir dieses Versprechen auch einhalten konnten. Sicher war es nicht.
Belial gehörte zu unseren mächtigsten Feinden. Ihn zu erledigen, war schwer, wenn nicht gar unmöglich. Und wir konnten diesmal nicht auf die Hilfe unseres Freundes Raniel hoffen. So standen wir Belial allein gegenüber und mussten versuchen, ihn einer echten Lüge zu überführen.
Oder anders gesagt, der Wahrheit. Denn die normale Wahrheit war für ihn eine Lüge.
Nicht nur er und Toby gehörten zu den Akteuren in diesem höllischen Spiel. Es gab noch jemand, über den wir uns Sorgen machten. Das war Claudine Lanson. Keiner von uns glaubte, dass sie den alten Friedhof verlassen hatte. Sie war so etwas wie eine Wächterin und zugleich jemand, der Kontakt zu den normalen Engeln hatte.
Mittlerweile waren wir tiefer in das Gebiet des Friedhofs eingedrungen. Uns umgab lastende Stille.
Wir hörten nichts. Keine Stimmen, keine Geräusche von irgendwelchen Tieren. Selbst der Wind schickte uns nicht das leiseste Raunen entgegen.
Dunkelheit umgab uns wie Pech. Unsere Sinne waren angespannt. Wir hatten ungefähr die Richtung eingeschlagen, die wir schon kannten. Das Engelgrab lag an einer relativ prägnanten Stelle, so dass es auch in der Dunkelheit schnell zu finden war.
Dann passierte doch etwas. Licht war zu sehen! Ob näher oder weiter entfernt, war nicht so schnell festzustellen. Jedenfalls schwebte es zwischen den Büschen und auch unter dem Geäst der Bäume.
Wir waren beide stehen geblieben, um uns auf das Licht zu konzentrieren.
»Es muss dort sein, wo auch das Engelgrab liegt«, flüsterte ich Suko zu.
»Aber nicht Belial…«
Ich hob die Schultern. »Wer weiß.«
Suko gab mir keine Antwort und ging weiter. Das Licht blieb, die Stille ebenfalls, und sie gefiel mir gar nicht, denn Stille konnte auch etwas Tödliches an sich haben…
***
Getroffen - ich bin getroffen!
Wie ein heißes und glühendes Stück Eisen hatte sich der Pfeil in Claudines Körper gebohrt. Es war für Claudine zuerst ein Schock gewesen. Der hatte sie bewegungsunfähig gemacht, und sie war sich vorgekommen wie an den Boden gehaftet.
Das ging vorbei. Der Schmerz raste durch ihren Körper. Er erreichte die Schultern, auch den Kopf, und er ließ sie zusammensacken. Es sah so aus, als wollte sie noch einen Schritt nach vorn gehen, einen allerletzten, um dem Unheil zu entkommen.
Das war nicht mehr möglich. Mit dem rechten Bein knickte sie ein, und der neben ihr stehende Toby schaute teilnahmslos zu, wie die Frau zu Boden fiel.
Zunächst berührte sie die Erde mit den Knien. Da schien sich die Frau noch halten zu können. Mit dem Seufzer, der aus ihrem offenen Mund wehte, fiel auch sie nach vorn, und so blieb sie auf dem Bauch liegen.
Es war vorbei!
Es gab keine Flucht mehr, und Belial hatte sich wieder einmal als Meister der Lüge herausgestellt.
Claudine rührte sich nicht mehr. Der Kopf war beim Fall zur Seite gedrängt worden. Sie lag auf der Wange, die Augen hielt sie offen.
Dabei starrte sie ins Leere und wunderte sich trotzdem darüber, dass sie noch in der Lage war, einen Gedanken zu fassen. Der Tod war nahe, er streichelte sie, aber er griff noch nicht zu.
In ihrem Kopf bewegte sich etwas. Zuerst klang es wie ein fernes Singen. Weiche Melodien, aus Stimmen gebildet, die so süß und sanft klangen. Es war der Gesang der Engel, den sie ihr aus ihrer fernen und doch bereits nahen Welt schickten.
Die auf dem Boden liegende Frau spürte keine Schmerzen mehr. Sie war so anders geworden, aber sie konnte noch denken. Ihr Gehirn reagierte, während sich der Blutfleck um die Wunde herum in ihrem Rücken immer mehr vergrößerte.
Der Tod war so nahe. Er umkreiste sie als unsichtbarer Bote und griff noch nicht zu.
Claudines Lippen zuckten, und der Mund nahm dabei ein weiches Lächeln an. Sie hatte etwas gesehen und auch gespürt. Ein wunderschönes und sehr weiches Licht schwebte in ihrer Nähe über dem Boden. Ein strahlender Kranz, in dem sich das alles vereinte, was sie so liebte. Hoffnung, Sehnsucht, eine bestimmte Art von Liebe. Sie bildeten das Bett, in dem sich die Sterbende so wohl fühlte.
Sie dachte nicht mehr an den Lügenengel
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