Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Prolog – Im Jahr des Herrn 839
Der Frühling hielt früh Einzug in der Stadt Palmaris, der nördlichsten Großstadt des aufstrebenden Königreichs des Bären. Überall entlang der Ufer des großen Masur Delaval erblühten Immergrün und Tulpen in leuchtenden Violett- und Blautönen, und von Südosten wehte ein beständiger und sachter Wind, der kaum jemals drehte und nur selten kalte Luft vom düsteren Golf von Korona herüber trug.
In der Stadt selbst, jetzt, da die Menschen sich nahezu jeden Tag in Scharen in den Straßen tummelten und sich vom Sonnenschein wärmen ließen, herrschte munteres Treiben. Tatsächlich hatte die Welt die erschütternden Umstände der Rotflecken-Pest in den Jahren 827 bis 834 überwunden, einer Pest, der ein Wunder an einem Schrein auf dem Gipfel eines weit entfernten Berges einen Großteil ihres Schreckens genommen hatte, ein Wunder, das jene Frau der Welt beschert hatte, die jetzt als Baroness von Palmaris herrschte. Seit man Jilseponie Wyndon dazu bestimmt hatte, die Führung der Baronie zu übernehmen, war jedes Jahr ein wenig strahlender erschienen als das vorangegangene, so als hätte sich ihre Ernennung auf die ganze Welt, auf die der Natur als auch auf die von Menschenhand geschaffene, vorteilhaft ausgewirkt.
Noch nie hatte Palmaris ein solches Ausmaß an Wohlstand und Frieden gekannt. Während der letzten Pestjahre war die Einwohnerzahl der Stadt stark angewachsen, denn Palmaris hatte als Tor zu den Nordlanden und dem Wunder auf dem Berg Aida gedient, und viele Pilger waren nach ihrer langen Rückreise in der Stadt geblieben. Bauern hatten die von der Pest dahingerafften Familien ersetzt und den Gürtel der Kulturlandschaft rings um die Stadt mehrere Meilen nach Norden und Westen ausgedehnt. Handwerker hatten die Möglichkeiten eines neuen und umfassenden Marktes erkannt und entlang der gepflegten Promenaden Geschäfte eröffnet, um den Bedarf der aufstrebenden Bevölkerungsgruppen, Bauern und Seeleuten, zu decken. Und dank der Führung und vorbildhaften Toleranz von Baroness Jilseponie und Abt Braumin Herde aus der Abtei St. Precious waren die dunkelhäutigen Südländer, die Behreneser, zu Reichtum und Wohlstand gelangt. Gerade diese Bevölkerungsgruppe war erst besonders hart von der Pest getroffen worden, und dann ebenso hart vom Hass, den die Bruderschaft der Büßer geschürt hatte, eine rebellische Splittergruppe der abellikanischen Kirche, die die behrenesischen Heiden für die Rotflecken-Pest verantwortlich machte und die Bevölkerung von Palmaris zu gewalttätigen Racheakten aufwiegelte.
Dies alles hatte sich unter der Herrschaft von Baroness Jilseponie geändert, und zwar drastisch. Viele Behreneser, die aus ihrer Heimat oder den weit im Süden gelegenen Städten des Bärenreiches in den Norden gekommen waren, um an der als Bund von Avelyn bekannt gewordenen Wunderheilung teilzuhaben, hatten in Palmaris Möglichkeiten vorgefunden, die sie im Bärenreich nicht im Traum für möglich gehalten hatten. Nahezu ein Drittel der Dockarbeiter und Schiffsbesatzungen der zahlreichen Schiffe, die Palmaris als ihren Heimathafen ansahen, waren mittlerweile Behreneser. Manche besaßen jetzt sogar ein eigenes Schiff oder dienten als Schiffsoffiziere oder gar Kapitäne auf den Garnisonsschiffen von Palmaris. Und obwohl die Einstellung der ursprünglich aus dem Bärenreich stammenden Bevölkerung sich bezüglich der Behreneser nicht grundsätzlich geändert hatte – die Heimtücke des Rassismus war tief verwurzelt –, waren die dunkelhäutigen Südländer mittlerweile zahlreich genug, um ihrer Gemeinschaft ein gewisses Maß an Sicherheit zu gewähren; mehr noch, ihre Zahl war groß genug, um den Eingeborenen des Bärenreiches zu zeigen, dass die Behreneser abgesehen von der Hautfarbe und ihrer andersartigen Kultur gar nicht so anders waren.
In dieser intakten Stadt des Friedens und Wohlstandes unternahm Baroness Jilseponie des Öfteren Spaziergänge, wenn auch ohne ihr königliches Gewand und ohne ihre Sicherheitseskorte. Sie war jetzt Mitte dreißig, doch weder die Jahre noch der lange und beschwerliche Weg, der jetzt hinter ihr lag – ein Weg voller Kümmernisse, Prüfungen und schmerzhafter Verluste –, hatten der Lebendigkeit, die diese starke Frau ausstrahlte, etwas anhaben können. Denn jetzt kannte sie die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Sie hatte das Wunder bei Avelyns Arm, auf dem Plateau des Berges Aida, gesehen. Sie hatte mit dem Geist von Romeo Mullahy gesprochen
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