Das Engelsgrab
worden.
Seine rechte Hand hielt den Jungen fest wie eine Kralle. Der Arm ragte über die Schulter hinweg. Die leicht gekrümmten Finger hatten dort ihren Platz gefunden, wo unter der Brust das Herz des Jungen schlug. Diese Geste deutete auf etwas Fürchterliches hin. Als wollte der düstere Höllenengel dem Jungen das Herz aus der Brust reißen.
Er bewegte sich nicht. Er stand da wie jemand, der zu dem anderen gehörte. Beinahe wie Vater und Kind. Claudine spürte ihren inneren Aufruhr, als ihr dieser Gedanke kam. Gleichzeitig baute sich eine Gegenwehr in ihr auf. Sie konnte und wollte nicht zulassen, dass dieser Junge eine Beute des Engels wurde. Nur tat er nichts. Er stand unter dem Bann des Mächtigen. Toby wirkte auf Claudine tatsächlich wie ein Schläfer. Damit kam sie ebenfalls nur schwer zurecht.
Sie wusste nicht, wie lange sie dem düsteren Engel gegenübergestanden hatte. Zumindest war es ihr in dieser Spanne nicht möglich gewesen, ein Wort zu reden. Sie musste erst eine innere Mauer überwinden, und das schaffte sie auch.
»Wer bist du?« fragte sie. »Wo kommst du her? Hast du überhaupt einen Namen…«
Claudine war gehört und auch verstanden worden, denn der Engel zuckte zusammen. In seinem düsterbleichen Gesicht bewegten sich für einen Moment die Augen. Er riss sie so weit auf, dass Claudine den düsteren Glanz darin sehen konnte und vor ihm erschrak, denn eine derartige Schwärze machte ihr Angst.
»Ich bin Belial!« Er sprach, er flüsterte, er raunte. Alles in einem, und seine Stimme hallte noch für einen Moment nach.
Claudine überlegte. Belial, dachte sie, Belial. So fremd kam ihr der Name nicht vor. Ihr fiel im Augenblick nur nicht ein, in welche Schublade sie diese Gestalt stecken sollte. Sie kannte viele Engelnamen.
Aber die von der anderen Seite. Nur Engel mit besonderen Führungsaufgaben waren namentlich bekannt. Zumindest auf der Seite des Lichts.
Auf der anderen musste es sich analog dazu verhalten. Auch dort gab es Hierarchien. Da herrschten die Mächtigen und unterdrückten die anderen. Ein System war immer gleich. Egal, in welcher Welt es sich auch aufgebaut hatte.
Es dauerte Belial wohl zu lange, denn er übernahm wieder das Wort.
Er wollte sich öffnen. Im gleichen Tonfall gab er die weitere Erklärung ab. »Ich bin derjenige, der Luzifer mit am nächsten ist. Belial ist der Engel der Lügen, so sagen es die Menschen. Aber ich bin tatsächlich die Wahrheit. Ich lüge nicht. Was die Menschen als Lüge ansehen, ist meine Wahrheit…«
Claudine hatte für den Moment genug erfahren. Die Blockade gab es nicht mehr. Wie Schuppen war es ihr von den Augen gefallen. Ja, sie kannte Belial, sie hatte mal etwas über ihn gelesen, und sie wusste, dass er die normale Wahrheit gar nicht sagen konnte. Er war gezwungen, zu lügen, auch wenn er es selbst nicht glaubte.
Hier hatte er nicht gelogen. Sein Name stimmte. Aber warum hatte er die Nähe des absolut Bösen verlassen? Claudine überlegte. Sie wusste auch nicht, weshalb er den Jungen mitgebracht hatte. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie konnte sogar kurz vor der Frage lächeln, als sie sagte:
»Du wirst ihn am Leben lassen, nicht?«
»Toby?«
»Ja, Toby.«
»Natürlich lasse ich ihn am Leben.«
Diese Antwort machte der Frau klar, dass Belial tatsächlich der Engel der Lügen war. Einen Teufel würde er tun. Er würde den Jungen umbringen. Er war nicht in der Lage, die Wahrheit zu sagen. Claudine hatte Mühe, ihr Zittern zu unterdrücken. Sie überlegte verzweifelt, wie sie den Jungen aus dieser Lage herausbekam. Sie suchte nach Hilfe.
Claudine dachte an die Erscheinungen der anderen Engel, an das weiche Licht, das ihr den Mut gegeben hatte, doch sie waren verschwunden.
Statt dessen stand Belial vor ihr, und sie nahm seinen widerlichen Geruch wahr, denn ihr wehte der Hauch des Bösen entgegen. Etwas Kaltes und Feuchtes, das ihr den Atem raubte. Es musste aber weitergehen. Sie wollte Belial nicht die Initiative überlassen, und so stellte sie ihm die nächste Frage. Die Antwort darauf war für sie sehr wichtig. »Lässt du mich auch leben?«
»Ja!«
Lüge! schrie es in ihr. Verdammte Lüge! Er wird mich töten. Er hat mich nur in Sicherheit wiegen wollen. Tatsächlich aber ist mein Tod beschlossene Sache.
Claudine wusste, dass es keinen Sinn hatte, wenn sie jetzt einen Fluchtversuch unternahm. Auf diesem Friedhof würde sie Belial nicht entkommen können. Er war immer stärker, denn ihn leiteten die Kräfte der Hölle.
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