Das Engelsgrab
eine Finte. Plötzlich zauberte er hinter seinem Rücken einen dieser goldenen Pfeile hervor. Er legte ihn so schnell auf, dass die Bewegung mit den Augen kaum zu verfolgen war. Die gesamte Gestalt schien zu einem huschenden Etwas zu werden, was daran lag, dass er seine Flügel ausgebreitet hatte und plötzlich in die Höhe stieg.
Wollte er fliehen?
Noch bestand die Verbindung zwischen uns dreien. Das Kreuz bildete nach wie vor einen festen Brückenteil. Ich glaubte auch nicht an Belials Flucht. Er gab nicht auf.
Er war ein Blender, ein Trickser. Aber wieso konnte Claudine so sicher sein, nicht von ihm getötet zu werden? Wenn Belial es geschafft hatte, Schutzengel zu vernichten, dann würde er auch Claudines Geist oder ihre Seele ausschalten können.
Von oben schaute er herab. Belial war zu einem mächtigen, dunklen Gebilde mit hochstehenden Flügeln geworden, die sich leicht bewegten und ihn auf der Stelle hielten.
Da sprach ich die Formel. »Terra pestem teneto Salus hic maneto…«
***
Ich konnte selbst nicht sagen, warum ich es getan hatte. Sie war mir einfach über die Lippen gerutscht und hatte eigentlich den langen Augenblick der Unsicherheit zerstören sollen. Ich war es nicht gewohnt, mich auf andere zu verlassen, und so wurde plötzlich nach meiner Musik getanzt.
Da war das Licht. Da war die Brücke. Ein viel helleres Licht als das, das die Engel abgaben. Es strahlte in den Himmel hinein, und es schob dabei wie gnadenlose Blitze gegen die Gestalt des Lügenengels.
Es traf ihn mit voller Kraft!
Sein magerer Körper zuckte, als sollte er innerhalb des Lichts zerrissen werden. Er führte einen irrsinnigen Tanz in der Luft auf. Er wusste, dass er ein Versprechen nicht mehr hatte einhalten können. Er hatte gelogen.
Er hatte seine Wahrheit verdreht, und das schwächte ihn. Ich wartete darauf, dass er zu Boden fiel und mir vor die Füße prallte, denn seine Flügel, die sich noch immer bewegten, wurden allmählich dünner. Sie lösten sich sogar an den Enden auf. Es sah so aus, als hätte jemand Federn in die Luft geschleudert.
Wie schon so oft, griff jemand anderer ein. Luzifer wollte seinen Diener nicht verlieren, und seine Macht kämpfte gegen das Licht meines Kreuzes an.
Da war die Schwärze, so dicht, so absolut. Wie eine Decke legte sie sich auf das Licht. Sie machte es blass, und es sah so aus, als sollte es von ihr gefressen werden.
Der Engel fegte weg. Er flog nicht aus eigener Kraft. Für mich sah es so aus, als wäre er von einer Riesenhand fortgerissen worden. Eingehüllt in Luzifers Schutz, raste er in den nachtdunklen Himmel hinein und verschwand.
Wie angewurzelt stand ich da und wusste nicht, ob ich mich freuen sollte. Er war entkommen, er würde wieder erscheinen, wenn er seine Wunden geleckt hatte, und wahrscheinlich würde er seine Jagd auf die Schutzengel der Menschen fortsetzen, bis es keinen von ihnen mehr gab.
»Danke!« vernahm ich Claudines Stimme in meinem Kopf und war für einen Moment irritiert.
»Warum?« flüsterte ich.
»Du hast mich gerettet. Er hätte mich töten können, aber ich habe dein Kreuz gesehen und habe deshalb auf ihn gesetzt. So hat er gelogen, denn es gibt mich noch. Wenn auch in einer anderen Art und Gestalt. Doch dieses Leben ist wunderbar. Viel Glück, John Sinclair, und viel Glück auch deinem Freund…«
Schlagartig brach die Verbindung ab.
Ich schaute über die Gräber hinweg. Da war kein Licht mehr, denn es war ebenso rasch verschwunden wie auch Claudine Lanson…
***
Stimmen rissen mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um. Suko und Toby kamen näher. Mein Freund hatte den Jungen an die Hand genommen, der wieder normal geworden war und auch völlig normal ging. Er hatte so viele Fragen auf einmal, die Suko gar nicht beantworten konnte. Dafür tat er etwas anderes.
Er holte sein Handy hervor und ließ sich die Telefonnummer der Cramers sagen. Danach drückte er Toby den Apparat in die Hand. »So, sprich du mit deiner Mutter. Sag ihr, dass es dir gut geht und du bald wieder bei ihr sein wirst.«
Damit hatte Suko dem Jungen eine große Freude gemacht. Toby war in den nächsten Minuten beschäftigt, und Suko kam zu mir. Er hatte den rechten Arm angehoben. Ich schlug gegen seine Handfläche.
»Ist es das gewesen?« fragte er.
»Vorerst zumindest. Belial wird zurückkehren und seine Jagd auf die Engel fortsetzen.«
»Damit ist leider zu rechnen.«
»Und für dich habe ich auch einen Job«, sagte ich.
»Tatsächlich? Welchen
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