Das Erbe
blutig. Eine der Scherben hatte sie getroffen.
Tom hatte auf die Lampe direkt über ihr geschossen, die zersprungen war. Es war nicht mehr als ein Warnschuss gewesen. Dennoch sah sie, wie Marie sich hinter Taylor flüchtete, einige der anderen Studenten pressten sich auf den Boden. Andere suchten Schutz, indem sie die Arme über den Köpfen verschränkten und sich zusammengekrümmt an ihre Stühle klammerten.
Katie drückte Debbies Kopf nach unten und wiederholte unentwegt: »Einfach atmen, Deb. Atme einfach weiter. Du lebst. Es war nur eine Lampe, verstehst du? Eine Fucklampe, die dir scheißegal sein kann.«
Erleichtert registrierte Rose, dass offenbar niemand außer ihr verletzt war. Dennoch, das nächste Level war erreicht. Sie begriff erst jetzt richtig, was sie schon vorher hätten wissen müssen. Tom meinte es ernst. Er saß dort vorne, die Augenbrauen nach oben geschoben, als wollte er seinem Publikum sagen: Hey Leute, noch irgendwelche Zweifel?
Rose spürte hinter sich eine Bewegung. Sie nahm sich nicht die Zeit, das Blut abzuwischen, sondern wirbelte herum, ihre Hände krallten sich in den kalten Stoff von Chris’ Hemd.
»Nicht«, schrie sie. »Bleib, wo du bist, Chris.«
Sie hatte seine Reaktion erwartet und Julia war es nicht anders gegangen. Sie hatte sich vorhin nicht an Chris’ Schulter geklammert, weil sie Schutz brauchte. Nein, sie hatte ihn festgehalten.
Rose wunderte sich nur, dass es nicht schon früher geschehen war. Chris besaß die Reizschwelle eines Bullterriers, wenn er wütend wurde. Tom hatte die Grenze überschritten und Chris konnte sich nicht länger beherrschen.
Sein Hemd glitt aus ihrer Hand, als er weiterstürmte. Aber jetzt reagierten auch andere. Mit einem Satz war Ethan bei ihm, dann noch Taylor, der seinem Freund zu Hilfe kam.
»Tom, du fucking Bastard«, brüllte Chris. »Wenn du ihr etwas tust, ich schwöre dir, ich bringe dich um.«
Selbst die beiden Footballstars schafften es kaum, ihn zu bändigen.
»Chris«, Julia klammerte sich an ihn, »hör auf, bitte. Tu mir das nicht an. Ich … ich könnte es nicht ertragen, wenn …«
Chris beruhigte sich tatsächlich unter ihrem Blick. Zumindest wich er einen Schritt zurück.
»Ihr könnt mich loslassen«, murmelte er an die beiden Studenten gewandt. Über Roses Schulter hinweg starrte er zu Tom.
»Sag uns, was du willst. Was sollen wir tun, dass du uns freilässt?«
»Ihr könnt nichts tun«, erwiderte Tom gelassen. »Ihr seid nur Statisten.«
9. Im Zeichen des Pfahls
Die Luft im Innern des Raums war mit einem Mal zum Schneiden dick. Wie der Nebel draußen, dessen Grau durch die Ritzen der Rollläden drang.
Rose bewegte sich nicht.
Nur Statisten?
Mit diesen beiden Worten hatte Tom ein Gefühl der Leere in ihr ausgelöst. Rose verfiel in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit und offenbar ging es den anderen ähnlich. Eine stille Verzweiflung machte sich im Raum breit. Sie konnten nichts tun, nur warten. Sie konnten nicht einfach weglaufen wie die Studenten draußen. Sie waren allein auf sich angewiesen.
Und sie konnten die Verantwortung nicht abgeben an Sicherheitsbeamten oder die Polizei. Noch immer hörte sie das Rattern der Hubschrauber, die dort draußen im Nebel ihren Weg suchten. Das Geräusch kam ihr plötzlich lächerlich vor. Was wollten sie ausrichten?
Sie spürte ein Kribbeln in ihren Fingern, ihre Hand war dabei einzuschlafen. Eine Stimme drang an ihr Ohr.
»Du blutest, Rose«, hörte sie Julia sagen. Ihre Hand berührte sanft Roses Haar.
Sie registrierte einen entfernten Schmerz an ihrem Kopf, den sie zunächst nicht zuordnen konnte, bis ihr wieder die Glasscherbe einfiel. Sie steckte noch immer in der Kopfhaut. Sie spürte jetzt deutlich die Scherbe in ihrer Haut. Mit der rechten Hand wischte sie sich über das Gesicht und beim Anblick des Blutes wurde ihr schwindelig.
Im nächsten Moment zuckte sie vor Schmerz zusammen. Sie klammerte sich an einen Stuhl, um nicht umzukippen.
Julia hatte die Scherbe mit einem Ruck herausgezogen.
»Hoffentlich sind keine Splitter zurückgeblieben. Das muss desinfiziert werden. Hier …« Sie reichte Rose ein Papiertaschentuch. »Drück das dagegen.«
Ohne auf Tom zu achten, der sie mit zusammengekniffenen Augen musterte, ging sie in den hinteren Teil des Raums und öffnete nacheinander die Schranktüren, offenbar auf der Suche nach einem der Notfallsets, das sich in jedem der Seminarräume und Vorlesungssäale befand.
Das Klappern der Metalltüren brachte
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