Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe

Das Erbe

Titel: Das Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
Vom Netzwerk:
mir sträubte. War ich wirklich gewappnet? Ich sah schon die Mündung einer Waffe vor meinen Augen – und es war nicht die Waffe des Amokläufers, sondern die eines Polizisten, der mich für den Täter hielt.
    Aber ich würde ruhig bleiben. In jedem Fall.
    Ich würde die Hände heben und jedem, der sich mir in den Weg stellte, zu verstehen geben, dass ich unbewaffnet war. Ob man mir glauben würde oder nicht.
    Robert hatte recht. Ich war heute an der Reihe und ich würde der Angst nicht nachgeben, selbst wenn ich wusste, dass jemand mein ganz persönliches Trauma kannte und mir den Spiegel vorhielt mit Bildern, die ich so verzweifelt hatte verdrängen wollen.
    Die Schreie hörten wir erst, als wir fast oben waren. In der Empfangshalle herrschte pures Chaos. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meine Adern pulsierte und meine Sinne schärfte. Studenten, Angestellte und Dozenten stießen in ihrer Panik einander beiseite, um so schnell wie möglich dem Gebäude zu entfliehen. Zwei Mädchen in der Nähe des Kamins umschlangen einander schluchzend, offenbar unfähig, sich zu bewegen. Ich erkannte Professor Brandon, der auf die beiden einredete, und Ike. Die Ruhe des Hundes irritierte mich.
    Direkt vor uns brüllte ein Mitglied der Security Anweisungen in ein Megafon: »Alle verlassen das Gebäude. Beeilen Sie sich. Schneller! Steigen Sie in die Busse.«
    Ein anderer hing am Funkgerät und schrie: »Wir haben zu wenig Leute hier … die Hubschrauber haben keine Möglichkeit zu landen. Der Nebel ist zu dicht.«
    Sie evakuierten. Was nichts anderes bedeutete, als dass sie den Amokläufer nicht gefunden hatten. Er befand sich noch immer im Gebäude.
    »Das ist Wahnsinn«, sagte ich. »Warum gehen sie das Risiko ein? Wenn er hier auftaucht, gibt es ein Blutbad.«
    Aber Robert erwiderte ruhig: »Es ist deine Chance. In der Menge nimmt man dich vielleicht gar nicht wahr.«
    Seine Augen flogen über die Studenten, die sich um den Eingang drängten. »Julia ist nicht hier«, sagte er, obwohl er das unmöglich erkennen konnte. »Bei den anderen bin ich mir nicht sicher.«
    Ich starrte hoch zur Galerie, wo sich mir dasselbe Bild bot. Studenten, die die Treppen herunterstolperten und jeden zur Seite stießen, der sich ihnen in den Weg stellte. Dort oben befand sich der Prüfungsraum, in dem Rose, Julia und die anderen über ihrer Englischprüfung gesessen hatten. Von meinem Platz aus konnte ich erkennen, dass die Tür verschlossen war.
    Hatten sie es geschafft, das Gebäude zu verlassen, oder saßen sie noch dort drinnen, nachdem sie die Notfallverriegelung eingeschaltet hatten?
    Ich musste es wissen.
    Ich sah mich um und stoppte, ohne groß nachzudenken den Securitybeamten, der vergeblich versuchte, Ruhe in das Chaos zu bringen. Seine Haare hingen in die Stirn und ich konnte den Schweiß der Angst geradezu riechen, der sich mit dem Gestank nach Nikotin verband. Seine Augen flogen über mich hinweg.
    »Sind dort oben auf der Galerie noch Studenten? Im Prüfungsraum?«, schrie ich. In diesem Moment war mir egal, ob er mein Gesicht erkannte und mit der Kopie des Fotos im Internet in Verbindung brachte.
    »Sehen Sie zu, dass Sie hier rauskommen«, brüllte er, ohne mir den Blick zuzuwenden.
    »Gibt es Verletzte? Tote?«
    »Raus mit Ihnen!«
    »Meine Freunde, sie waren im Prüfungsraum. Ich will nach oben …«
    Er stellte sich mir in den Weg. »Kommt gar nicht infrage. Ich habe Anweisung, jeden aus dem Gebäude zu schaffen.«
    Nun musterte er mich genauer. Ich konnte sehen, wie sein Gehirn plötzlich Verknüpfungen herstellte. Als käme ich ihm bekannt vor. Aber ich konnte nicht aufhören. »Ich muss wissen …«
    Vermutlich hatte ich einfach Glück. Hinter ihm stolperte ein Student die Stufen herunter und traf den Sicherheitsmann genau in den Rücken. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und schob mich einfach zur Seite.
    Im nächsten Moment wurden Robert und ich von der Menge mitgerissen. Ich klammerte mich an irgendeinem Arm fest, der mich weiterschob, und brüllte: »Wer hat geschossen?«
    Der Junge schüttelte nur stumm den Kopf und riss sich los. Ich sah ihm nach, wie er sich panisch einen Weg durch die Menge bahnte, durch die Tür rannte. Dann verschluckte ihn der Nebel.

8. Im Zeichen der Spinne
    Natürlich drang der Lärm in den Raum, in dem sie Gefangene waren. Und dennoch war das Schweigen kaum zu ertragen. Diese spannungsgeladene Stille stand in völligem Gegensatz zu dem Wahnsinn, der sich vor der Tür abspielte,

Weitere Kostenlose Bücher