80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
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Er kam zu sich, als eine Frau an seinem Schoß hantierte. Als er zusammenfuhr, zuckte auch sie zurück. Es war eine Stewardess.
„Bitte schließen Sie den Sicherheitsgurt, Sir“, sagte sie und machte ein Gesicht, als wiederhole sie die Bitte bereits zum x-ten Mal. Der Fluggast konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gehört zu haben. Dabei war er nicht eingenickt. Für einige Minuten musste er mit offenen Augen in seine Gedanken versunken sein wie in einen tiefen Schlaf.
Irritiert kam er der Aufforderung nach und ließ die Schnalle des Gurts einschnappen. Das pausbäckige Gesicht der Dame hellte sich prompt auf. Sie zupfte das Nina Ricci-Halstuch zurecht, das mit seinem roten Streifen der kühlen blauweißen Uniform der Fluglinie einen dezenten Hauch von Leben verlieh. Viel mehr Leben war auf ihrem geröteten Gesicht. Offenbar hatte sich die junge Frau nicht anders zu helfen gewusst: Als der Mann auch auf mehrfaches Ansprechen und Antippen nicht reagierte, musste sie sich entschlossen haben, die losen Enden des Gurtes, die auf seinen Beinen lagen, selbst zu schließen.
„Einen Tee, bitte“, brachte der Passagier hervor, bemüht, die peinliche Situation zu überspielen.
„Gerne“, antwortete die Stewardess souverän. „Gleich nach dem Start.“ Mit wiegenden Hüften setzte sie ihren Kontrollgang fort.
Wohin fliegen wir? , lag dem Fluggast die Frage auf der Zunge, doch ehe er sie aussprach, fiel ihm die Antwort darauf ein. Sie flogen nach Großbritannien, von München nach London, mit Umsteigen auf dem Schiphol Airport in Amsterdam. Er saß in einer Maschine der holländischen Fluglinie KLM, einer Fokker 100, die als City Hopper zwischen den europäischen Metropolen eingesetzt wurde. Die Zahl 100 bezog sich auf die maximale Zahl von Passagieren, die das kleine Flugzeug befördern konnte. Die Maschine war allem Anschein nach ausgebucht – er musste einen der letzten Plätze ergattert haben. Von den Gesprächen der Fluggäste war jetzt nichts mehr zu hören. Die Motoren brummten so laut, dass selbst Gelächter davon überlagert wurde.
In dem Netz auf der Rückseite des vorderen Sitzes fand Sir Darren nicht nur die Tüte, in der er im Falle einer Übelkeit seinen halbverdauten Mageninhalt unterbringen sollte, sowie die üblichen Werbezeitschriften (hier hieß das Hochglanzblatt der Airline „holland herald“), sondern auch ein großformatiges Anmeldeformular. Während die Stewardess sich ebenfalls setzte und anschnallte und der Pilot die Maschine auf die Startbahn einschwenkte, überflog der Brite das Blatt. Dabei machte er eine überraschende Entdeckung.
Seine Unterschrift befand sich auf dem Papier! Dabei konnte er sich nicht erinnern, dieses Formular jemals signiert zu haben.
Unwillkürlich verkrampfte er sich. Dann zwang er sich zur Ruhe. Es handelte sich lediglich um die Anmeldung für das Rabatt-Programm von KLM. Weder war er einer radikalen religiösen Vereinigung beigetreten, noch hatte er ein lebenslanges Abonnement auf Hummel-Figuren abgeschlossen. Die Sache war harmlos: Man konnte Meilen sammeln und dafür kostenlose Flüge und andere Geschenke einheimsen. Vermutlich hatte er in der Hektik des Eincheckens eine Unterschrift geleistet, während seine Gedanken bereits mit anderen Dingen beschäftigt waren. So etwas konnte jedem passieren.
Trotzdem verblüffte es ihn, dass es ausgerechnet ihm passierte. Das war nicht er .
Sir Darren hatte spontan beschlossen, den deutschen Boden zu verlassen und in sein Heimatland zurückzukehren. In Süddeutschland weiter ziellos herumzuirren, auf der Flucht vor etwas, von dem er nicht wusste, wie, wo und wann es zuschlagen würde – das machte keinen Sinn. Es war höchste Zeit, dass er der passiven Rolle des Opfers entschlüpfte und selbst eine Verteidigungsstrategie aufbaute. Der Schock, als die Mächte des Jenseits die Jagd auf ihn eröffneten, war groß gewesen. Die Reue über das, was er getan hatte, vermischte sich mit der Furcht vor dem nahenden Tod, und er hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben das Heft vollkommen aus der Hand nehmen lassen, war geflohen wie ein Stück Wild, das die Witterung des Jägers aufgefangen hatte.
Doch jeder Schock ebbte irgendwann einmal ab.
Sir Darren hatte das Gefühl, dass er wieder zu seiner alten Form zurückfinden würde, sobald er britischen Boden unter den Füßen hatte. Er war ein Sohn des Empires, und da er seine zweite Heimat, Schloss Falkengrund, nicht aufsuchen durfte, um die anderen Bewohner nicht
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