Das Evangelium nach Satan
ganzer Chor: dunkle und helle Stimmen, laute und leise, die wie von fernher klangen. Eine Kakofonie von Geheul und Lästerungen erfüllte die Ohren der Oberin. Sie unterschied mehrere Sprachen: Latein, Griechisch, Ägyptisch, Dialekte der Barbaren aus dem Norden und völlig unbekannte Wörter – alles wirbelte in dieser Flut von Geschrei durcheinander. Wut und Angst, die Sprache der Seelenräuber.
Die Ritter aus der Tiefe. Dann legte sich ein dunkler Schleier vor ihre Augen. Gerade, als sie das Bewusstsein zu verlieren drohte, fiel ihr ein, dass sie eine Waffe bei sich trug, mit der sie die Schwestern vor den im Gefolge der Pest durch das Land ziehenden Plünderern zu schützen versuchte, einen langen Dolch mit Ledergriff. Schon halb tot schwang sie ihn im Licht der Kerzen und stieß ihn der Nonne mit aller ihr verbliebenen Kraft in die Kehle.
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Während sich Mutter Isolde jetzt in der Enge, die ihr die Luft nimmt, die Tränen aus dem Gesicht wischt, erinnert sie sich voll Schauder an das Gefühl, das sie empfunden hatte, als die Klinge der Sterbenden in die Kehle gedrungen war, daran, wie wenig Widerstand Haut und Knorpel ihr geleistet hatten. Sie sieht die herausgequollenen Augen der Alten vor sich und glaubt, erneut das Geheul zu hören, das in einem unverständlichen Gegurgel untergegangen war. Sie weiß noch genau, wie die Finger, die sie zu erdrosseln drohten, um ihren Hals gekrallt blieben, sodass eine Nonne die Sehnen an den Handgelenken der Alten durchtrennen musste, um sie endlich zu lösen. Dann war ihr Leib ein letztes Mal starr geworden, bevor er reglos zurücksank. Am entsetzlichsten aber war die Eiseskälte gewesen, die mit einem Mal die Zelle erfüllt hatte, und die Fußspuren, die in dem Augenblick auf dem Boden sichtbar wurden, da die Tote auf ihren Strohsack zurückgesunken war. Abdrücke von Stiefelsohlen, die sich zur Dunkelheit des Gangs hin entfernt hatten, bis die Schritte nach und nach verhallt waren. Mutter Isolde hatte den Nonnen, die einander angstvoll an den Gewändern festgehalten hatten, zugerufen, sich sogleich niederzuwerfen und zu beten. Doch um Gott noch anzurufen, war es zu spät. So kam es, dass im Jahr des Unheils 1348 die guten Schwestern des Wehrklosters in den Dolomiten das Untier in die Freiheit entließen.
8
Die geheimnisvollen Fußspuren trockneten rasch und hinterließen eine dünne Lehmschicht auf dem Boden. Wenn man sah, wie der Wind sie nach und nach abtrug, hätte man geradezu beruhigt sein können, wäre nicht dieser bräunliche Staub gewesen. Während Mutter Isolde mit dem Finger mitten durch ihn hindurchfuhr, musste sie sich der Wirklichkeit stellen: Die Spuren gingen nicht auf ihre Einbildungskraft zurück. Das aber bedeutete, dass keine noch so feste Eichentür, kein Gebet und keine Macht auf der Welt den unsichtbaren Verursacher dieser Spuren daran hindern konnte, nach Belieben in den Gängen des Klosters aufzutauchen und von dort zu verschwinden. Da inzwischen in den Dolomiten auch tiefer Schnee lag, waren diese vierzehn Nonnen jetzt zudem Gefangene des Winters. Das Ungeheuer verjagte nicht nur Gott aus den Mauern des abgelegenen Klosters, das es sich als Stützpunkt auserkoren hatte, sondern zugleich aus dem Herzen seiner Dienerinnen.
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Während die Nonnen die Tote für die Beerdigung vorbereiten, sucht Mutter Isolde mit der in Leder gebundenen Handschrift ihre Zelle auf. In diesem Buch hofft sie, den Schlüssel zu allem zu finden, was die Alte gesagt hat, und auch die bisher im Dunkeln liegenden Gründe, die zum Mord an den Nonnen vom Mons Cervinus geführt haben. Und wenn nun dies Satansevangelium für sich allein genommen die Ursache der tragischen Vorfälle war und die Seelenräuber ihre entsetzlichen Verbrechen ausschließlich deshalb verübten, um erneut in dessen Besitz zu gelangen und die anderen verbotenen Schriften in der Klosterbibliothek zu vernichten?
Die Oberin verriegelt die Tür hinter sich, legt den Schädel mit der Dornenkrone in eine Truhe und das Buch auf ein Schreibpult aus Buchsbaumholz. Mit geschlossenen Augen betastet sie den Einband. Während ihres Noviziats in Rom ist sie früh mit der Kunst der Lederverarbeitung vertraut geworden und hat gelernt, ein Buch allein dadurch zu identifizieren, dass sie mit den Fingerspitzen darüberstreicht. Das Leder wilder Stiere, denen die kastilischen Gerbermönche die Haut abgezogen haben, das feine Ziegenleder, das die Buchbinder in Pyrenäenklöstern in mehreren
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