Das Evangelium nach Satan
ledernen Schilden und langen Schwertern bewaffnet; ihre Rüstungen blinken im Schein der Fackeln. Die anderen schwingen Kurzschwerter und Dolche: germanische und hunnische Krieger. Seufzend zieht Isolde von Raum zu Raum.
Fernes Gebrüll hallt in den Eingeweiden der Erde wider, während sie durch einen langen Gewölbegang an Standbildern mit Teufelsfratzen vorüberkommt, die man aus den gewachsenen Felswänden herausgehauen hat. Aus Verliesen greifen Hände, die zwischen den Metallstäben hinausdrängen, nach dem Kopf der Nonne, die ihren Weg fortsetzt. Es ist entsetzlich heiß. Am Ende des langen Gangs öffnet sich eine Tür. Sie führt in einen von Fackeln erhellten Saal, dessen Decke auf Säulen ruht. Nackte Männer sind an Tischen angekettet. Henkersknechte machen sich über ihnen mit Zangen und allerlei anderen Instrumenten zu schaffen. Als man sie den Gequälten in den Leib treibt und mit Zangen die Haut von den Muskeln zerrt, schreien sie laut auf. Hinter den Henkersknechten trocknen westgotische Buchbinder die Haut der Geschundenen auf Gestellen aus Weidengeflecht und färben sie im Schwefelbad schwarz.
Schauer des Schreckens schütteln Isolde: Das Buch, über das sie in ihrer Zelle mit liebkosenden Fingern gefahren ist, hatte man zuerst mit Menschenhaut bezogen, bevor andere Hände im Lauf der Jahrhunderte versucht hatten, diese Freveltat zu vertuschen. Das abscheulichste aller Verbrechen. Die Handschrift der Satanisten.
Dann sucht eine weitere Vision sie heim: die Pestseuche. Ozeane von Ratten breiten sich über die ganze Welt aus. Die Städte brennen. Zu Millionen liegen Tote in offenen Gruben. Inmitten der Ruinen schleppt sich eine alte Nonne voran, mit verstümmeltem Leib, einen dichten Schleier vor dem Gesicht. Unter ihrem Habit hat sie eine Tuchhülle und einen Lederbeutel verborgen. Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Bald wird sie sterben. Woanders durchstreift ein gesichtsloser Mönch das verwüstete Land auf der Suche nach ihr. Er folgt ihrer Fährte, die er inmitten einer Unzahl von widerlichen Gerüchen aufgenommen hat. Er schlachtet die Bewohner der Klöster ab, die ihm Obdach gewähren. Und er kommt näher. Er ist da.
Mutter Isolde rafft alle ihre Willenskraft zusammen, und es gelingt ihr, die Hand vom Einband wegzureißen. Ein heftiger Luftzug bläst die Kerzen aus, und voll Staunen nimmt sie in der Dunkelheit wahr, wie rote Fäden auf der Oberfläche des Buchdeckels aufschimmern, blutigen Nervensträngen gleich, die sich zu phosphoreszierenden Buchstaben anordnen. Die lateinischen Worte scheinen auf der Oberfläche des Leders zu tanzen, als sie sich darüber beugt. Mit zitternden Lippen liest sie sich selbst laut vor, um sie besser entziffern zu können:
∗ ∗ ∗
SATANSEVANGELIUM:
SCHRIFT DES ENTSETZLICHEN UNGLÜCKS,
DER TÖDLICHEN WUNDEN UND DER GROSSEN
KATASTROPHEN.
HIER BEGINNT DAS ENDE,
HIER ENDET DER ANFANG.
HIER RUHT DAS GEHEIMNIS VON
GOTTES MACHT.
ZUM FEUER VERDAMMT SEIEN DIE AUGEN,
DIE ES IN SICH AUFNEHMEN.
∗ ∗ ∗
Eine Beschwörungsformel. Nein, eigentlich eine Warnung, die letzte, die ein angstvoller Buchbinder dem Leder anvertraut hat, um Neugierige abzuschrecken, Unvorsichtige davor zu bewahren, dass sie das Buch aufschlagen. Aus diesem Grund haben Generationen von Händen weitblickender Menschen ihre Kunst an diesem aus einer anderen Zeit stammenden Werk ausgeübt, wenn sie es schon nicht über sich brachten, es zu vernichten. Nicht zur Verschönerung des abstoßenden Einbands war das geschehen, sondern um ihn mit dieser Warnung zu versehen, die ausschließlich in der Dunkelheit sichtbar wird. Danach hatten sie die Blätter mittels einer kunstvollen Schließe unzugänglich gemacht. Jetzt schimmert deren kräftiger Metallbügel im roten Licht, das von dem Band ausgeht.
Mutter Isolde nimmt ihre Lupe zur Hand, um den Verschluss im Licht einer Kerze genauer zu mustern. Ja, es ist ganz wie vermutet: Das Schlüsselloch ist lediglich eine Attrappe. Es handelt sich um einen Mechanismus, der sich nur dann öffnet, wenn man die Finger leicht auf ganz bestimmte Stellen des Verschlusses legt. Sie sieht sich dessen Umrandung genauer an, sucht nach den Stellen, an denen die Finger drücken müssen, um ihn zu betätigen. Das Vergrößerungsglas zeigt ihr die kaum wahrnehmbaren Vertiefungen im Metall. Vorsichtig drückt sie mit der Spitze eines Gänsekiels auf eine davon. Klick. Eine winzige Nadel ist aus dem Mechanismus hervorgeschnellt und hat sich in den mit Tinte gefüllten
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