Das Evangelium nach Satan
Federkiel gebohrt. Ihre Spitze schimmert grünlich: offensichtlich Arsen. Mutter Isolde fährt sich mit dem Ärmel ihres Gewands über die schweißnasse Stirn. Wer sich diesen Mechanismus ausgedacht hatte, war bereit, eher zu töten als zuzulassen, dass Unwürdige die in jenem Buch enthaltenen unsagbaren Geheimnisse enthüllten. Deshalb also hatten die Seelenräuber die Schwestern des Felsenklosters am Mons Cervinus abgeschlachtet – sie wollten ihr Heiligtum wieder an sich bringen: das Satansevangelium.
Sie entzündet die Kerzen erneut. Während es in der Zelle allmählich wieder hell wird, verschwinden die geheimnisvollen rot schimmernden filigranen Fäden auf der Oberfläche des Leders. Die Ehrwürdige Mutter wirft ein Tuch über das Schreibpult und wendet sich dann zum Fenster. Draußen schneit es immer heftiger. Schatten hüllen die Gipfel ein.
10
Schweigend und voll Trauer begraben die Augustinerinnen die Alte auf dem Friedhof ihres Klosters. Ein kalter Wind pfeift über die Mauern, als Mutter Isolde eine Passage aus einem der Briefe des Apostels Paulus vorliest. Beim Läuten der Totenglocke stimmen die Nonnen mit tränenerstickter Stimme den Trauergesang an, der mit dem weißen Dampf ihres Atems in der eiskalten Luft zum Himmel steigt. Einzig das Krächzen der Raben und das ferne Heulen der Wölfe antworten ihnen. Der Tag neigt sich. Wegen des Nebels, der über dem Boden dahinkriecht, schwindet sein Licht noch rascher. So kommt es, dass keine der von Kummer gebeugten frommen Frauen die finstere Gestalt wahrnimmt, die sie aus dem Kreuzgang beobachtet. Ein menschliches Wesen in einer Kutte, dessen Gesicht unter der großen Kapuze im Dunkeln liegt.
Der erste Mord fand kurz nach Mitternacht statt, während Mutter Isolde im Waschhaus ein Bad nahm. Sie hat sich ein dickes wollenes Hemd übergezogen und ist in einen Waschhandschuh aus Rosshaar geschlüpft, um ihren Leib nicht berühren zu müssen. Dann steigt sie in einen hölzernen Zuber mit dampfend heißem Wasser und taucht bis zur Leistengegend ein. Während sie mit einem Bimsstein die Schmutzschicht auf Armen und Oberschenkeln bearbeitet, wobei sie sich bemüht, nicht an ihre heftig schmerzende Kehle zu denken, hört sie mit einem Mal Schwester Sonjas Entsetzensschreie und die Hilferufe der anderen Nonnen, die durch die Gänge eilen.
11
Die Zellentür ist verschlossen. Mit der Schulter rennt Mutter Isolde, die in ihrem nassen Hemd zittert, dagegen an. Auf der anderen Seite ertönen unaufhörlich die Schreie Schwester Sonjas und das Gebrüll des Untiers. Dazwischen hört man das Geräusch von Geißelschnüren, die auf nacktes Fleisch klatschen.
Unter Aufbietung aller Kräfte gelingt es den Frauen, die Tür ein wenig aufzudrücken, und die Ehrwürdige Mutter sieht den gequälten Leib Schwester Sonjas, die an die Wand genagelt worden ist wie an ein Kreuz. Hilflos schlagen die Füße der Unglücklichen wenige Zentimeter über dem Boden durch die Luft. Sie ist nackt, ihr bleicher Unterleib und ihre Brüste zucken unter den Schlägen der geflochtenen Lederschnur, die auf ihrer Haut ein gezacktes Muster hinterlässt. Aus ihren von langen Nägeln durchdrungenen Händen läuft das Blut. In der Mitte der Zelle steht ein Mönch in schwarzer Kutte und schwingt die Geißel. Im Licht der Kerzen wirkt er riesengroß. Eine Kapuze verdeckt sein Gesicht vollständig. Ein schweres silbernes Medaillon schlägt ihm gegen die Brust: ein fünfzackiger Stern, in dessen Mitte ein Dämon mit einem Bocksschädel prangt – das Zeichen der Teufelsanbeter und Seelenräuber.
Als der Mönch, dessen Augen in der Dunkelheit leuchten, Mutter Isolde entdeckt, schließt eine unwiderstehliche Kraft die Tür. Es ist dieselbe Kraft, die Schwester Sonja an der Wand festhält, die Kraft des Mönchs. Im letzten Augenblick sieht die Ehrwürdige Mutter, wie der Dämon einen Dolch aus der Lederscheide zieht, und kann noch einen letzten Blick mit Sonja wechseln, bevor die Klinge in deren Leib dringt. Die Tür schlägt zu, und ein eiskalter Luftstrom lässt die Augustinerinnen erschauern, ganz wie im letzten Augenblick der alten Nonne.
Mutter Isolde senkt den Blick. Wieder sieht man Spuren auf dem Boden, die in der Dunkelheit des Gangs verschwinden. Diesmal sind es die von nackten, blutigen Füßen. Bei ihrem Anblick schlägt das Herz der Oberin rascher. Dem linken Fußabdruck fehlt ein Zeh. Vor einigen Wochen hat Schwester Sonja einen abgestorbenen Baum entastet und dabei ungeschickt mit dem
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