Teeblätter und Taschendiebe
Kapitel 1
Noch etwas Kaffee, Theonia?« Für ihr Alter und ihre Größe war Mrs. Adolphus Kelling erstaunlich stark. Sie schaffte es sogar, mit sicherer Hand die schwere barocke Silberkanne von Dolphs Großtante Matilda hochzuheben und daraus einzuschenken, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten. »Vielen Dank, Mary.«
Mrs. Brooks Kelling, die es sich auf der Chaiselongue bequem gemacht hatte wie dereinst Madame Recamier in ihrem Salon, streckte ihre grazile Hand aus, um das zierliche, goldgrün verzierte Mokkatäßchen in Empfang zu nehmen.
»Möchtest du auch noch etwas, Sarah?«
»Liebend gern.« Doch dann bemerkte die inzwischen sichtlich rund gewordene Mrs. Max Bittersohn, geborene Kelling, den tadelnden Blick ihres Gatten und seufzte ergeben. »Am besten gibst du mir hauptsächlich Sahne.«
»Gutes Mädchen. Für mich bitte schwarz.« Max nahm die beiden Tassen in Empfang und trug sie zu dem wuchtigen Biedermeiersofa, auf dem er und seine Frau die ganze Zeit gesessen hatten. »Kopf hoch, Süßele. Es dauert ja nicht mehr lange.«
»Siebenunddreißig Tage«, sagte Brooks Kelling, der ein Experte für Brutverhalten war, auch wenn er sich vor allem auf die mit dreißig Arten äußerst umfangreiche Gattung der Echten Waldsänger spezialisiert hatte. »Stimmt's, Sarah?«
Hinter dem Ohr eines Queen-Anne-Sessels erschien das grimmige, rosige Gesicht von Sarahs Onkel Jeremy. »Kann man nicht ein einziges Mal ungestört sein Abendessen verdauen, ohne daß sich jemand über widerliche Themen wie Geburtshilfe ausläßt?«
»Babys sind nicht widerlich!« fauchte ihn sein Cousin Dolph an. »Widerlich ist höchstens, wenn sich jemand vom greinenden Säugling übergangslos zum alten Sabbergreis entwickelt - wie du beispielsweise.«
»Jetzt fangt bloß nicht wieder an, euch zu zanken«, schaltete sich Mary ein. »Macht euch lieber Gedanken, wie wir am besten das nötige Geld auftreiben können.«
Max, der sich nach dem üppigen Essen ein wenig überladen fühlte, ließ seinen Blick von den prallen Polstermöbeln zu dem überladenen Kaminsims und den mit unzähligem Krimskrams vollgestopften Ecken gleiten. »Wenn ihr mich fragt, solltet ihr eine Auktion veranstalten.«
»Oder ein brennendes Streichholz dranhalten«, knurrte Jem.
Beide Vorschläge hatten etwas für sich, fand Sarah. Früher hatten die Kellings lediglich in ihren Sandsteinhäusern auf dem Beacon Hill ein eher bescheidenes Dasein geführt, doch als sie dann in die Vororte gezogen waren, hatten sie sich fatalerweise mit Architekten zusammengetan, die ihre eigenen Vorstellungen von Pracht besaßen, und ihnen bedauerlicherweise zu verstehen gegeben, sie sollten ruhig »ordentlich klotzen«.
Sarah hatte keine Ahnung, wer die Monstrosität verbrochen hatte, die Cousin Dolph von Großonkel Frederick geerbt hatte, doch man konnte dem Mann wahrhaftig nicht vorwerfen, daß er an Platz gespart hatte. Und da sie nun einmal über so viele zusätzliche Zimmer verfügten, hatten es die Kellings natürlich als ihre Pflicht angesehen, diese angemessen zu füllen. Inzwischen war das Haus bis zum Dach mit viel Schönem und noch mehr Scheußlichem vollgestopft.
Sie selbst hätte gern den Empiresessel gehabt, auf dem sich Cousine Theonia so dekorativ niedergelassen hatte. Theonia liebäugelte möglicherweise mit dem zierlichen Mokkaservice. Niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, hätte sich allerdings freiwillig die besinnlichen Sprüche in Brandmalerei auf Birkenrinde, die in getrockneten Seetang eingefaßt waren, an die Wand gehängt.
Großtante Matildas künstlerische Ader hatte in der kreativen Verwendung von Seetang ihr ultimatives Ausdrucksmittel gefunden. Ihr Meisterwerk war ein Kranz aus Blasentang und Riementang, den sie um einen verbogenen Kleiderbügel arrangiert und für die Nachwelt in einem schweren Goldrahmen konserviert hatte, dessen Glas vorn eine ähnliche Ausbuchtung aufwies wie Sarahs einstmals schlanke Taille momentan und während der nächsten siebenunddreißig Tage. Glücklicherweise konnte Sarah das Gebinde von ihrem Platz aus nicht sehen.
Dolph schien die Idee mit der Versteigerung nicht gerade zu begeistern. »Wir können doch nicht einfach Onkel Freds persönliche Sachen an Gott weiß wen verscheuern«, begann er zu protestieren.
»Aber Schatz, das verlangt doch auch keiner«, beruhigte ihn Mary. »Aber was ist mit all dem anderen Zeug? Ich finde, wir könnten ruhig ein bißchen ausmisten, damit man endlich in den
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