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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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Wasserglas, und noch einen, und noch einen. Nachdem er drei solcher Schlucke getan hatte, schien es ihm, er sei wieder der alte Eichmeister Anselm Eibenschütz. In Wirklichkeit war er es nicht. Es war ein ganz neuer, ein ganz veränderter Anselm Eibenschütz.
    Jeden Tag in der Früh war er gewohnt gewesen, einen heißen Tee mit Milch zu trinken. Auf einmal aber, eines Nachts, kam es ihm in den Sinn, daß er Tee mit Milch nicht trinken dürfe, solange Sameschkin da sei und er mit Euphemia nicht zusammensein könnte. Erst im Frühling – erst im Frühling! rief er sich zu. Und er begann, jeden Morgen, den Tee, den man ihm ins Zimmer brachte, in die Waschschüssel zu gießen. Denn er schämte sich, und er wollte niemanden merken lassen, daß er des Morgens nicht mehr Warmes trinke. Statt des Warmen nahm er einen Schluck Neunziggrädigen.
    Es wurde ihm sofort heiß und wohl, und er sah trotz allem heiter ins Leben. Sehr kräftig kam er sich vor, und er glaubte, er könne alles in der Welt bezwingen. Sehr stark war er da, der Eichmeister Eibenschütz, und der Maronibrater Sameschkin würde auch bald verschwinden.
    Immer, in Uniform wie im Zivil, hatte Eibenschütz sehr viel auf seine Bügelfalten achtgegeben. Nun aber, seitdem er in den Hosen schlief, schien es ihm, daß Bügelfalten nicht nur überflüssig seien: häßlich waren sie auch. Überflüssig und häßlich war es auch, die Stiefel vor die Tür zu stellen, damit man sie putze.
    Bei allem sah der Eichmeister Eibenschütz immer noch stattlich aus, und nur wenige konnten an ihm irgendeine Veränderung wahrnehmen. Es sei denn Sameschkin, der ihm eines Morgens mit all seiner ahnungslosen Gutmütigkeit sagte: »Sie haben einen großen, einen Riesenkummer, Herr Eibenschütz.«
    Er stand auf und ging, ohne ein Wort.

XXXIV
    Der arme Eibenschütz mußte bald selbst feststellen, daß sich merkwürdige Dinge in seinem Gehirn abspielten. Er bemerkte zum Beispiel, daß er die Erinnerung für die jüngst vergangenen Begebenheiten verlor. Er wußte nicht mehr, was er gestern getan, gesagt und gegessen hatte. Es ging schnell abwärts mit ihm, dem stattlichen Eichmeister. Er mußte so tun, als erinnerte er sich, wenn er ins Amt kam und der Schreiber mit ihm von einer Anordnung sprach, die er gestern gegeben hatte, an alles.
    Und er nahm alles zusammen, was er an Klugheit besaß, um nur vom Schreiber herauszukriegen, was er gestern gesagt haben konnte.
    Äußerlich sah er immer noch stattlich aus, der Eichmeister Eibenschütz. Noch war er ein junger Mann, im ganzen sechsunddreißig Jahre alt. Er hielt sich noch stark und aufrecht, zu Fuß und im Wägelchen. Aber in seinem Innern brannte der Schnaps, wenn er ihn getrunken hatte, und die Sehnsucht nach dem Schnaps, solange er ihn nicht getrunken hatte. In Wirklichkeit glühte in seinem Innern die Sehnsucht nach einem Menschen, irgendeinem Menschen, und das Heimweh nach Euphemia. Ihr Bild saß fest in seinem Herzen, zuweilen hatte er das Gefühl, er brauchte sich nur die Brust zu öffnen, hineinzugreifen, um das Bild hervorzuholen. Und er dachte in der Tat daran, daß er sich eines Tages die Brust öffnen würde.
    Auch sonst gingen in jener Zeit seltsame Veränderungen in ihm vor, er bemerkte sie auch, er bedauerte sie sogar, aber er konnte nicht mehr wieder der alte Mensch werden. Er wollte es gerne, und man kann sagen: er sehnte sich nach sich selbst noch mehr zurück, als er sich nach andern Menschen sehnte.
    Er wurde immer unerbittlicher und unnachsichtiger im Dienst. Dazu trug auch ein wenig der neue Wachtmeister bei, der an die Stelle Slamas getreten war, nämlich der Wachtmeister Piotrak. Er war rothaarig, und es bewahrheitete sich an ihm der alte Aberglaube des Volkes, daß die Rothaarigen böse Menschen seien. Auch der Glanz seiner Augen, obwohl sie knallblau waren, hatte etwas Rötliches, gleichsam Entzündetes und Brennendes. Er sprach nicht, sondern es war, als ob er knurrte, wenn er etwas sagte. Nur mit Widerwillen setzte er, wie das Gesetz es befahl, das Gewehr ab, wenn er in einen Laden trat. Er lachte selten, aber er erzählte dem Eichmeister unaufhörlich lästige Geschichten, mit tiefem Ernst. Er brauchte nichts zu sagen, wenn sie zusammen in einen Laden eintraten, um Gewichte und Maße zu prüfen. Der Eichmeister Eibenschütz fühlte seinen Blick, und dieser scharfe blaue und zugleich rötliche Blick fiel todsicher auf den verdächtigsten der Gegenstände. Eines Tages gar fand der Gendarmeriewachtmeister Piotrak

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