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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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heraus, daß man auch die Qualität der Waren prüfen könnte, und der Eichmeister gehorchte ihm. Er fragte nach den Waren. Er fand verfaulte Heringe und verwässerten Schnaps und von Mäusen angenagtes Linoleum und feuchte Streichhölzer, die nicht brennen konnten, und von Motten zerfressene Stoffe und aus Rußland herübergebrachten Samogonka, den selbstgebrannten Schnaps, den die armen Bauern herstellten. Er hatte nie daran gedacht, daß es zu den Aufgaben eines Eichmeisters gehörte, auch die Waren zu prüfen, und der Gendarm Piotrak, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, bekam eine besondere Bedeutung. Ganz langsam, ganz sachte glitt der Eichmeister Eibenschütz in eine gewisse Abhängigkeit von dem Gendarmen hinein, er gab sich keine Rechenschaft darüber, aber er fühlte es doch, und manchmal empfand er sogar Furcht vor dem rothaarigen Mann. Und besonders erschreckend war der Umstand, daß der Gendarm ganz enthaltsam war. Immer war er nüchtern, und immer war er böse. Auf seinen kurzen, festen Fäusten standen rötliche Härchen, den Stacheln eines Igels ähnlich. Dieser Mann war nicht nur vorschriftsmäßig bewaffnet. Er selbst war Waffe.
    Manchmal holte er aus seiner großen schwarzen Diensttasche ein Butterbrot mit geräuchertem Schinken, brach es in der Mitte entzwei und bot eine Hälfte dem Eichmeister Eibenschütz an. Eibenschütz nahm es, obwohl er Hunger hatte, mit einigem Widerwillen. Manchmal hatte er die Vorstellung, daß ein paar der rötlichen Borsten, von denen so viele auf den Händerücken Piotraks wuchsen, auch auf die Butter oder auf den Schinken gefallen waren.
    Zugleich fühlte er auch, daß er ja selbst ein böser Mensch geworden war und daß Piotrak gar nicht so viel übler war als er selber. Er zog die flache Flasche aus seiner rückwärtigen Hosentasche und trank einen großen, starken Schluck. Hierauf erschien es ihm, daß er gar nicht böse sei, daß er streng sein müsse, daß er nur seine Pflicht tue – und damit basta. Kühn und ausgefüllt von einer gewissen erhitzten Munterkeit drang er in die Läden ein, in die großen, in die mittleren, in die kleinen, in die kleinsten. Manchmal flohen die spärlichen Kunden, denn sie fürchteten sich vor der Gendarmerie, vor der Behörde, vor dem Gesetz überhaupt. Aus seiner Diensttasche zog der Gendarm das längliche, schwarze, in Seidenrips gebundene Dienstbuch. Sein gezückter Bleistift sah beinahe aus wie sein Bajonett.
    Hinter der Theke stand der Eichmeister Eibenschütz, und der Kaufmann neben ihm schien verkümmert und zusammengeschrumpft (man stelle sich eine zusammengeschrumpfte Null neben einer entsetzlichen Ziffer vor), Eibenschütz diktierte dem Gendarmen: »Gramme!« oder: »drei Pfunde« oder: »sechs Kilo« oder auch: »zwei Meter«. Er stellte die falschen Gewichte vor sich hin, wie man Schachfiguren hinstellt. Groß und breit stand er da, und er kam sich sehr mächtig vor, der Vollstrecker des Gesetzes. Der Gendarm notierte, der Händler zitterte. Manchmal kam aus dem Hinterzimmer des Ladens seine Frau heraus, sie rang die Hände.
    Alle Menschen fragten sich, warum die Cholera nicht den Eichmeister Eibenschütz getroffen hatte. Denn er wütete schlimmer als die Cholera. Durch ihn kam der Korallenhändler Nissen Piczenik ins Kriminal, der Tuchhändler Tortschiner, der Milchhändler Kipura, der Fischer Gorokin, die Geflügelverschleißerin Czaczkes und viele andere. Wie die Cholera wütete er im Land, der Eichmeister Anselm Eibenschütz. Dann kehrte er heim, das heißt in die Grenzschenke nach Szwaby, und trank.
    Es kam vor, während seiner fürchterlichen Dienstvisiten, daß die Frau und die Kinder eines Händlers sich vor ihm auf die Knie warfen und ihn anflehten, keine Anzeige zu machen. Sie hängten sich an seinen Pelz. Sie ließen ihn nicht gehen. Aber der rothaarige Piotrak stand reglos daneben. An ihn wagte sich kein Weib, kein Kind heran, weil er in Uniform war. Eibenschütz sagte: Warum nicht streichen lassen? Wem hat er etwas getan? Alle berauben sie einander in dieser Gegend. Laß ihn streichen, Eibenschütz! Es war nur der alte, der frühere Eibenschütz, der so sprach. Der neue Eibenschütz aber sagte: Gesetz ist Gesetz, und hier steht der Wachtmeister Piotrak, und ich war selbst zwölf Jahre Soldat, und außerdem bin ich selbst sehr unglücklich. Und Herz habe ich nicht im Dienst. Und es war, als nickte Piotrak fortwährend mit dem roten Kopf zu all dem, was da der neue Eibenschütz sagte.

XXXV
    Ende Februar

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